Der profitable Ausländer

Die Freude darüber, dass Ausländer unser Sozialsystem nicht ausplündern sondern bereichern, ist ebenso groß wie fragwürdig

Von Michael Kraske

Jetzt haben wir es schwarz auf weiß. Was war das doch für eine schöne Nachricht so kurz vor Weihnachten: Ausländer plündern unsere Sozialkassen nicht, sondern entlasten sie sogar. Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung haben 6,6 Millionen Ausländer im Jahr 2012 in Deutschland für 22 Milliarden Euro Mehreinnahmen gesorgt. Die Online-Ausgaben von Spiegel und Zeit überschlugen sich vor Begeisterung: „Zuwanderung entlastet deutschen Sozialstaat.“ (zeit.de) „Ausländer bringen Deutschland Milliardeneinnahmen.“ (spiegel online) Die Studie mag für Sympathisanten der AfD ein argumentativer Tritt in die Weichteile sein. Zugleich ist sie Ausdruck der fortschreitenden Monetarisierung unseres Wertesystems. Der Ausländer wird als wirtschaftliche Ressource entdeckt, damit aber auch auf seinen geldwerten Nutzen reduziert. Was ist eigentlich, wenn die Bilanz ins Minus rutscht? Müssen wir dann so viele Ausländer abschieben, bis wir aus den roten Zahlen kommen? Die vermeintlich so frohe Botschaft über die nützlichen Ausländer ist in ihrem Kern Ausdruck dessen, was der Konfliktforscher Andreas Zick “marktförmigen Extremismus” nennt.

Es ist erst wenige Wochen her, dass ein einziges Foto unmissverständlich klar machte, was sich in den urinstinkenden Asyllagern der Republik, im toten Winkel gesellschaftlicher und medialer Aufmerksamkeit, abspielt: Der folternde Wachmann aus Burbach, der seinem verhöhnten Opfer in der Pose des Herrenmenschen auf den Kopf tritt, stand in seiner triumphierenden Menschenverachtung den Folterern von Abu Ghraib in nichts nach – aber das jähe Entsetzen über den eigenen Folterskandal verflog innerhalb weniger Tage. Und blieb folgenlos. Nur kurz schrieben Journalisten über undichte Dächer und überfüllte Turnhallen. Danach setzte wieder das politische Gezerre zwischen überforderten Kommunen und dem Bund ein, wer denn nun die steigenden Kosten für die Unterbringung der Flüchtlinge zu tragen habe.

Löcher stopfen

Kein Folterbild, kein Hungerstreik von Verzweifelten, keine auf einen Baum geflüchtete Kreatur ist derzeit in der Lage, eine gesellschaftliche Debatte darüber anzustoßen, wie wir es mit den Fremden halten, wie viel Menschenwürde wir denen gönnen wollen, die bei uns Zuflucht suchen. Günter Grass und seine Schriftstellerkollegen vom PEN versuchen, mit der Forderung nach Unterbringung von Flüchtlingen in Privathaushalten zu provozieren, während draußen im Land schon jede zaghafte Ankündigung einer neuen Asylunterkunft ängstliche Abwehrreflexe seitens der Anwohner provoziert.

Über Jahre hat eine erschreckend große Koalition den Eindruck erweckt, man müsse nur die letzten Löcher stopfen, die Abschottung noch radikaler und effizienter organisieren, dann könne Deutschland, was Zuwanderung angeht, nahezu auf dem Trockenen sitzen. Zuletzt assistierte der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann dabei, Serbien zum sicheren Herkunftsland zu erklären und dadurch die Asylverfahren für Menschen vom Balkan zu beschleunigen.

Kretschmann musste dafür sämtliche Belege des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR über fortlaufende Polizeigewalt gegen Sinti und Roma in Serbien konsequent ignorieren. Die staatliche Diskriminierung beginnt dort für einige schon als Baby, wenn Kindern dieser Minderheit kein Ausweis ausgestellt wird und sie damit von Geburt an von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen werden. Laut UN-Bericht erstreckt sich die Diskriminierung der Sinti und Roma in Serbien auf nahezu alle Lebensbereiche. Darüber liest man von medialen Meinungsbildnern wenig. Sie feiern stattdessen Löcherstopfer wie Kretschmann als verantwortungsvollen Staatsmann.

Wir können doch nicht die Probleme der Welt lösen

Jede öffentliche Diskussion über Zuwanderung und Flüchtlinge sinkt irgendwann auf das Niveau unbestrittener Allgemeinplätze herab. Nein, wir können bei uns nicht das Elend der Welt lösen. Nein, wir können nicht allen eine neue Heimat bieten, die sich weltweit auf den Weg machen, um Hunger, Krieg, Elend oder Folter zu entkommen.

Unbestreitbar ist aber auch: Es werden Menschen zu uns kommen. Das Mittelmeer kann gar nicht so viele verschlucken, als dass sich Verzweifelte davon abschrecken ließen. Das Prinzip Abschreckung durch entwürdigende Lagerhaltung geht nicht auf. In Bayern hatte man als Verwaltungsvorgabe formuliert, dass die Unterbringung so zu organisieren sei, dass sie den Wunsch auf Rückkehr in die Heimat befördert. Der Versuch der gewählten Christenmenschen, Unmenschlichkeit staatlich zu organisieren, ist eine politische und moralische Bankrotterklärung. Die öffentliche und dezidierte Abkehr von dieser durch Outsourcing staatlicher Aufgaben beförderten Praxis steht weiter aus. Es geht nicht nur darum, diejenigen, die her kommen, menschenwürdig unterzubringen, sondern auch darum, sie in der Wartezeit einzubinden statt sie kalt zu stellen.

Die Ignoranz für das Thema Flucht und Asyl hat auch damit zu tun, dass seit Jahren die Solidarität derjenigen bröselt, die gemeinhin als Mitte bezeichnet werden. Also derjenigen, denen es wirtschaftlich gut geht, die einen Beruf und ein Auto und oft auch ein Haus haben. In dieser abgesicherten Mitte gedeihen seit einigen Jahren verstärkt Vorurteile und die Abwertung von Minderheiten. Das belegt eine aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Danach hat die Hälfte in diesem Land Vorurteile gegen Asylsuchende. Fast ein Drittel ist gegen Sinti und Roma voreingenommen. Und jeder Fünfte misstraut Muslimen. Das zu Fußball-Großereignissen periodisch ausgerufene entspannte und gelassene neudeutsche Wir-Gefühl geht mit angsterfülltem Ressentiment einher. Bemerkenswert daran ist, dass dieser Verlust an Solidarität von sinkenden Arbeitslosenzahlen begleitet wird. Viele, die nach unten treten, können das nicht mit Ressourcenknappheit im gesellschaftlichen Verteilungskampf begründen.

Mensch oder Quantität

Auf der anderen Seite engagieren sich überall im Land die anderen. Freiwillige geben Sprachunterricht, verteilen Spenden, versuchen den sozialen und materiellen Lagermangel mit persönlichem Engagement zu kompensieren. Deutschland ist bei diesem Thema tief gespalten. Aber diejenigen mit offenen Armen und der Bereitschaft zu geben sind in der Defensive. Deutlich vernehmbar sind dagegen Lautsprecher wie der eloquente Herr von der AfD, der bei Maybritt Illner Menschen zu „Quantitäten“ zerreden und fragen darf, welche „Quantitäten“ denn gesellschaftlich zumutbar seien. Wenn Flüchtlinge nur noch als bedrohliche Quantitäten wahrgenommen werden, brennen schon mal deren Unterkünfte. Die Amadeu Antonio Stiftung zählte in diesem Jahr 23 Brandanschläge.

Finanzielle Nützlichkeit von Menschen ist ein gefährliches Argument. Es lädt dazu ein zu differenzieren. In die Wertvollen und die Unwerten, die Nützlichen und die Unnützen. Der Folterskandal von Burbach hätte ein Weckruf sein können, um endlich den Kurs zu wechseln. Derzeit tun wir alles, um diejenigen, die in großer Not, aber auch mit hoher individueller Leistungsbereitschaft zu uns kommen, außen vor zulassen. Wir separieren sie hinter Zäunen, wo sie rumlungern müssen, weil ihnen das Arbeiten verboten ist. Wir pferchen traumatisierte Menschen, unabhängig von Herkunft und Geschlecht, auf engstem Raum zusammen. Es mangelt nicht an überzeugenden Kosten-Nutzen-Rechnungen, sondern am politischen Willen, Flüchtlinge besser in das hermetisch abgeriegelte deutsche “Wir” zu integrieren. Dazu müsste man zunächst den Menschen hinter dem Kostenfaktor wahrnehmen. Sie könnten uns nützen, wenn wir sie denn ließen.

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