Achtung Religion!

Von Jennifer Stange

Offiziell gibt es in Russland keine Zensur. Das harsche Urteil gegen die Mitglieder der feministischen Punk-Band Pussy Riot zeigt jedoch einmal mehr, wie sich Behörden und die russisch-orthodoxe Kirche zunehmend die Kontrolle über Kultur und Kunst aneignen.

Maria Alyokhina (24), Yekaterina Samutsevich (30), und Nadezhda Tolokonnikova (22) wurden am vergangenen Freitag jeweils zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt. Sie haben sich in der Fastenzeit mit kurzen Kleidchen des Hooliganismus schuldig gemacht, der durch religiösen Hass motiviert war, befand das Gericht in Moskau. Die Argumentation der Verteidigung, die Performance der Band in der größten russisch-orthodoxen Kathedrale wäre ein politischer Protest gegen den damaligen Präsidentschaftskandidaten Wladimir Putin gewesen, lehnte das Gericht ab.

Selten hat ein Prozess gegen Künstler in Russland international soviel Aufmerksamkeit erregt, wie der gegen Pussy Riot. Dabei herrscht seit Jahren ein Kulturkrieg zwischen der russisch-orthodoxen Kirche und der nonkonformen Gegenwartskunst, in dem sich Behörden immer eindeutiger auf der Seite radikaler Gläubiger positioniert und die schlagkräftige Allianz zwischen russischen Nationalisten und Orthodoxen enger wird. Schauprozesse wie diese funktionieren regelrecht als Katalysator bei der Konsolidierung fundamentalistischer und nationalistischer Kräfte. Laut Verfassung sind Religion und Staat in Russland getrennt. Die Ausweitung der Orthodoxie auf die Bildung und Kultur wird jedoch vom Kreml seit Jahren ausdrücklich gefördert. Als Ersatz für die sowjetische Staatsideologie bildet die Dreifaltigkeit aus Orthodoxie, Autokratie und Volkstümlichkeit das Fundament der nationalen Idee.

Als erster war 1998 der Künstler Avdei Ter-Oganjan noch unter Boris Jelzin wegen „Entfachung von nationaler oder religiöser Feindschaft“ angeklagt worden. Auf einer Kunstmesse in Moskau hatte er den Besuchern angeboten, billige Ikonendrucke zu zerstören. Weil ihm für diese blasphemische Aktion in Russland mehrere Jahre Haft drohten, erhielt er in Tschechien politisches Asyl.

Die von der russischen Staatsführung initiierte Jugendorganisation Naschi, von Kritikern in Anlehnung an die Hitler-Jugend auch Putin-Jugend genannt, inszenierte 2002 eine Kampagne gegen den russischen Schriftsteller Wladimir Sorokin. Dabei wurden seine Bücher öffentlich verbrannt. Kurze Zeit später stand er wegen seines Romans „Himmelblauer Speck“ vor Gericht. Weil in dem Buch unter anderem der Geschlechtsverkehr zwischen Stalin und Chrutschew geschildert wird, musste er sich 2002 für die Verbreitung von Pornographie verantworten. Allerdings wurde die Anklage später fallen gelassen.

Die Ausstellung „Vorsicht Religion“ im Moskauer Sacharow-Zentrum für Menschenrechte wurde 2003 am Tag der Eröffnung von radikalen Gläubigen zerstört. Die Exponate, beispielsweise Jesus auf einem Werbeposter für Coca Cola, wurde teilweise vernichtet oder schwer beschädigt. Die Ausstellungsmacher erstatteten Anzeige. Im Gegenzug forderte das „Komitee für die sittliche Wiedergeburt Russlands“ unter Führung des Erzpriesters Alexander Schargunow die Schließung des Zentrums, woraufhin die Duma mit einem Dekret entschied, die Ausstellung würde religiösen Hass schüren und Gläubige beleidigen. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren gegen die Randalierer ein und eröffnete stattdessen den Verfahren gegen drei Ausstellungsmacher. Der russische Philosoph und Autor Michail Ryklin beschreibt in seinem auch auf deutsch erschienenen Essay „Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der „gelenkten Demokratie“ eindrucksvoll diesen Prozess, der mit einer Geldstrafe für die Verurteilten zu Ende ging. Während des Verfahrens gegen das Sacharow-Zentrum beteten Gläubige im Gerichtssaal, veranstalteten Prozessionen auf den Gängen, errichteten dort auch kleine Altare und beschimpften die Angeklagten mit antisemitischen Hetzparolen.

Wahrscheinlich wussten die Mitglieder von Pussy Riot, worauf sie sich mit ihrer Aktion einliessen, auch wenn sie nicht ahnen konnten, dass das Urteil gegen sie vorläufiger Höhepunkt des innerrussischen Kulturkampfs sein wird.

Wenn Russlands Präsident Wladimir Putin, wie bei einem Besuch in London, um ein mildes Urteil für die Bandmitglieder bittet, und die Oberhäupter der russisch-orthodoxen Kirche öffentlich verkünden, sie hätten den Frauen vergeben, dann tun sie das vor allem in Rücksicht auf die öffentliche Meinung im Westen. Denn auch wenn sich in den letzten Monaten endlose Demonstrationen gegen Putin durch die Straßen Moskaus zogen, sollte nicht vergessen werden, dass er (mit und auch ohne Wahlfälschungen) bei den Präsidentschaftswahlen einen souveränen Sieg davon getragen hat. Putin ist der neue starke Führer nach Stalin, den ein Teil der russischen Gesellschaft seit den 90ern herbeigesehnt hatte. Seither und nicht erst seit dem Prozess gegen Pussy Riot ist die russische Gesellschaft tief gespalten und liberale Kräfte in der Minderheit.

Beide, die Kirche und der Präsident, sahen sich anlässlich des Verfahrens gegen Pussy Riot offenbar auch dazu genötigt, explizit auf die Unabhängigkeit der russischen Justiz zu verweisen. Die Opposition und Demonstranten in Russland haben daran ihre Zweifel. Mikhail Prokhorov meinte nach Abschluss des Prozesses gegen Pussy Riot gegenüber dem Guardian: „Wir wissen nicht, wer letztlich die Entscheidung getroffen hat – der Kreml? Der Patriarch? Wahrscheinlich nicht das Gericht selbst.“

Seit Jahren vermeiden Brüssel und Berlin offene Kritik an Russland, obwohl dort so einiges nicht im Einklang mit den europäischen Werten von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie steht. Zwar äußert sich Bundeskanzlerin Angela Merkel, wie auch nach dem Urteil gegen Pussy Riot, gelegentlich über die Zustände in Russland “besorgt“, konnte es sich beispielsweise aber nicht nehmen lassen, unter den ersten Gratulanten nach Putins Wiederwahl zu sein. Die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ sollte weiter gehen und das tut sie.

Wenn eine Regierung aber glaubhaft für Menschenrechte entstehen will, reichen keine Lippenbekenntnisse. Zumindest bei systematischen Verstößen gegen Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen sollten bilatere Konsequenzen gezogen werden, auch wenn Europa keinerlei Sanktionsmöglichkeit besitzt. Stattdessen stellte sich der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning (FDP) am Tag der Urteilsverkündung mit anderen Protestlern vor die russische Botschaft in Berlin.

Ein schöne PR-Aktion, darüber hinaus heißt es für das deutsch-russische Verhältnis frei nach Gerhard Schröder wahrscheinlich: business as usual.

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