Stillgestanden für die Freiheit!

Von Michael Kraske

Lieber Recep Tayyip Erdogan,

ich mag das Land, in dem Sie Ministerpräsident sind. Sehr sogar, auch wenn ich zugeben muss, dass ich bisher nicht mehr kennen gelernt habe als das Meer, den Blick auf großartige Berge und freundliche Menschen. Was man selbst an der Türkischen Riviera beobachten kann, ist das friedliche Nebeneinander von Religion und Weltlichkeit, von Tradition und Moderne. Seit Tagen haben mich und viele andere die Bilder aus Istanbul erschüttert. Die Brutalität der Polizei. Das Tränengas. Ihr Vize hat den Demonstranten mit der Armee gedroht. Sie selbst haben den Sieg über die ausgerufen, die Sie in die Nähe des Terrorismus gerückt haben. Ohnmächtig verfolgen wir hier in Deutschland dieses Trauerspiel, erschrocken über die Gewalt, aber auch tief beeindruckt von der mutigen Sehnsucht nach Freiheit, die so viele Türken in sich und auf die Straße tragen. Der Choreograph Erdem Gündüz hat mit seinem mutigen, friedlichen Stillstand der Sehnsucht nach Freiheit eine Form gegeben, die so viel stärker ist als Wasserwerfer, Tränengas und Schlagstöcke. Gewalt, egal von wem, ist immer Kapitulation.

Ich habe nie zu denen in meinem Land gehört, die sagen, die Türkei ist nicht Europa und soll es nie sein. Ich finde es gut und richtig, dass die Türkei in die Europäische Union will. Was Europa ausmacht ist Toleranz. Jeder soll nach seiner Facon glücklich werden, egal welche Religion oder Herkunft er hat. Ich ahne, wie schwer ein minimaler Konsens in einem Land ist, wo Menschen, die zusammen kommen, um sich öffentlich zu küssen, mit Messern angegriffen werden.

Aber Demokratie ist immer auch die Akzeptanz von Lebensentwürfen und Moralvorstellungen, die nicht die eigenen sind. Jetzt höre ich, dass Journalisten eingesperrt werden und Menschen, die für eine freie Gesellschaft eintreten, verfolgt und verhaftet werden. Das Maß an demokratischer Herrschaft zeigt sich immer auch daran, wie die Regierenden mit Abweichlern umgehen. Ich hoffe wie so viele, die aus der Türkei nach Deutschland gezogen sind und mit bangen Blicken in ihre alte Heimat blicken, dass der Mut und die Träume und die Sehnsucht so vieler Menschen in der Türkei nicht gewaltsam unterdrückt werden. Dass das friedliche Stillstehen ein Innehalten bewirkt und die Einsicht befördert, dass jeder seinen eigenen Weg zum Glück finden muss, dass Vielfalt Reichtum ist.

Das ist im Angesicht schwerer, auch kollektiver Verletzungen, nichts weiter als ein naiver Wunsch. Wir hier in Deutschland sind bloß Zaungäste. Uns bleibt vorerst nur, aufmerksam und besorgt und erschüttert auf das Land zu blicken, das viele von uns so fasziniert. Und diejenigen unserer Zuneigung und Solidarität zu versichern, die bereit sind, für ihre Freiheit gerade zu stehen.

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