Sarrazin, Wowi und der Crashtest-Dummie

Von Marion Kraske

Chuzpe ist, wenn man es trotzdem macht, wider besseren Wissens. Wohl auch wider die Vernunft. Chuzpe ist mehr als nur Mut – der ist heldenhaft, glorreich, ein heller Strahl im dunklen Tunnel des Zauderns und Zögerns. Chuzpe hingegen ist der kleine, rotzige Bruder des Mutes, ihm wohnt ein Drang zur Dreistigkeit inne, zur Frechheit und Forschheit. Ein gehöriges Maß an Unverschämtheit gehört sicherlich auch dazu.
Thilo Sarrazin hat die Chuzpe, nicht locker zu lassen. Er hat sich wieder einmal zu Wort gemeldet, diesmal in der Berliner Morgenpost und auf Welt Online und, noch schlimmer: Er spricht über geistiges Niveau.
Sarrazin kommentiert das neue Buch, das der Regierende Bürgermeister Berlins, Klaus Wowereit, unter dem Titel „Mut zur Integration. Für ein neues Miteinander“ veröffentlicht hat und damit schon im Titel eine Gegenthese zum Sarrazinschen Deutschland-schafft-sich-ab-Tremolo liefert. Mit Neugier habe er das Werk zur Hand genommen, schreibt der, und dass man Wowereit, mit dem er mehrere Jahre als Finanzsenator in Berlin aufs Engste zusammengearbeitet habe, immerhin für die Erkenntnis loben müsse, dass Bildung und Arbeit bei der Herstellung von Chancengleichheit und Teilhabe eine wichtige Rolle spielten. Das war es denn aber auch schon mit den Nettigkeiten. Es folgt, was Sarrazin am besten kann: Schrille Töne, persönliche Beleidigungen. Lautstarkes Brustgetrommel. Wowereit, gibt Sarrazin zum besten, ergehe sich in „historischer Quacksalberei“, seine Kenntnisse in der Geschichte seien „bestenfalls schütter“. Das ganze Buch, höhnt der Bestseller-Autor, komme als lächerliche „Schönwetter-Mutmach-Fiebel“ daher, die die wahren Probleme von Migration – wie sollte es anders sein – negiere. Sein eigenes Werk, welch bodenlose Frechheit, habe Berlins Bürgermeister augenscheinlich nicht gelesen – oder schlicht verdrängt.
Kann es sein, dass der heilige Aufklärer der deutschen Hysteriegesellschaft sich höchstsselbst ebenfalls nur allzu gern in Verdrängung übt? Die Tatsache, dass seine eigene Fiebel, alles andere als ein Schönwetter-Produkt, von Experten gehörig zerpflückt wurde – schon vergessen? Verdrängt, dass seine ostentativ zur Schau gestellten Zahlenreihen und Statistik-Tabellen , das vermeintliche Herzstück seines kruden Argumentationsgebäudes, den wissenschaftlichen Crashtest nicht schafften? Weil sie mitunter an Aktualität zu wünschen ließen, weil sie mal mit falschen Bezügen daherkamen? Weil neueste Daten gar nicht erst auftauchten? Auf 70 Seiten haben Wissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität, wenig verdächtig, Probleme in Sachen Integration fahrlässig schönzureden, Sarrazin gehörig viel Murks nachgewiesen und ihre Erkenntnisse mit Bedacht “einen empirischen Gegenentwurf” genannt. In dem Dossier der Wissenschaftler heißt es: „Thilo Sarrazin erhebt den Anspruch, ein politisches Sachbuch geschrieben zu haben, von dessen Wissenschaftlichkeit er überzeugt ist, wenn er sagt: „Dieses Buch hätte genauso gut ein Politologe, ein Historiker oder ein Bevölkerungswissenschaftler schreiben können.“ Tatsächlich aber fehlen die wichtigsten Studien, Daten und wissenschaftliche Ergebnisse, die zum Themenspektrum „Muslime in Deutschland“, Migration und Integration in den letzten fünf Jahren veröffentlicht wurden.
Unser aller Oberaufklärer also, der sich damit brüstet, über die deutsche Multi-Kulti-Gesellschaft im allgemeinen und die (muslimischen) Dummgen-Einwanderer im Besonderen wie kein Zweiter Bescheid zu wissen, baute wesentliche Erkenntnisse aus Forschung und Wissenschaft in sein Traktat gar nicht erst ein? Wo nur, fragt man sich, hat der Mann dann eigentlich aber seine ureigensten Erkenntnisse her?
Und eben jener, der so locker und flockig an neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen vorbei fabuliert, wirft nun einem anderen, nämlich Parteikollege Wowi, mangelnde Geistesgröße vor, weil der, ja, so steht es geschrieben, sein Buch nicht gelesen oder gar verdrängt habe. Egal, wie gehaltvoll oder flach Wowereits Buch nun tatsächlich daherkommen mag – der feixende Politpartyhopper gilt zugegebenermaßen nicht eben als Inbegriff für himmelstürmende Intellektualität – ist Sarrazin die wohl denkbar schlechteste Besetzung, um eben dieses festzustellen. Man kann demnach frei wählen, was es ist, das den selbsternannten „Aufklärer“ antreibt: Frechheit, Dreistigkeit, Unverschämtheit? Vermutlich ein bunter Mix aus allem, gewürzt mit einer gehörigen Portion Hybris. Zumal vor allem das kleine, unauffällige und doch so hehre Wörtchen Niveau, ein durchaus nicht zu unterschätzender Gradmesser in einer Gesellschaft, aus dem Munde Sarrazins gehörig zusammen zucken lässt. Man gerät ins Grübeln, weil man in der Tat nicht recht weiß, was einer damit meint, der sich soeben noch voller Überzeugung mit eugenischen Anklängen an rassenhygienisch und biologistischen Überzeugungen entlanghangelte. Es waren eben jene Strömungen und Ideen, die im vergangenen Jahrhundert, radikal zu Ende gedacht, zu Vertreibung und Vergasung führten. Und vor allem eines abschafften: die Menschlichkeit.

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