Demokratie durchlüften

Von Marcus Müller

Ernst Gottfried Mahrenholz | Foto: © Marcus Müller

Ernst Gottfried Mahrenholz | Foto: © Marcus Müller

In der Politik ist gerade Frühjahrsputz, jedenfalls im Schloss Bellevue. Der neue Bundespräsident Joachim Gauck tritt dort an, um die von seinem Vorgänger auf dem Amt hinterlassenen Schlieren wegzupolieren. So nötig das ist, und so schön auch, dass es mal wieder einen Bundespräsidenten gibt, der – hoffentlich nicht nur konservativ-triefende – Reden halten kann: Die Debatte um die „Würde des Amtes“ hatte zum Schluss schon etwas seltsam Formalistisches.

Da wurden ein Amt und eine Funktion zum Teil angebetet, als ob es um Wunderheilung ginge. Es ist nach diesem ganzen Ämter-Fetischismus dringend nötig, die Demokratie auch materiell mal wieder deutlich aufzupolieren: Es ist Zeit für Volksentscheide auf Bundesebene. Bundespräsident Gauck, ausgestattet nun mit dem schmückenden Amt, wird sich dafür wahrscheinlich nicht sonderlich begeistern können. Er hat Volksentscheide auf Bundesebene bisher abgelehnt zeigte sich kurz vor seiner Wahl aber offenbar immerhin gesprächsbereit darüber.

Bei Gauck, wie bei fast allen anderen aus der „etablierten“ Politik, die gegen Volksentscheide auf Bundesebene sind, fällt jedoch eine seltsame Argumentation auf: Ihre Einwände lassen sich allesamt auch auf die repräsentative Demokratie anwenden, ohne dass diese gleich grundsätzlich infrage gestellt würde. So heißt es, bei geringer Beteiligung entschieden Wenige über die Mehrheit. Das könnte man inzwischen längst auch bei Wahlen sagen, denn die 30-plus-irgendwas-Ergebnisse der nur noch so genannten Volksparteien sind bei schrumpfender Wahlbeteiligung weit von sattem Rückhalt in der Bevölkerung entfernt. Solange niemand an der Abstimmung gehindert wird, ist das auch völlig okay: „Das Liegen auf dem Sofa hat keine staatsrechtliche Relevanz“, fasste dieses Phänomen Ernst Gottfried Mahrenholz, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, auf einer Tagung des Volksentscheide propagierenden Vereins „Mehr Demokratie!“ und der Friedrich-Ebert-Stiftung jetzt schön zusammen.

Der ebenfalls oft formulierte Einwand, politische Entscheidungen seien zu kompliziert, um sie vom Volk direkt abstimmen zu lassen, ist an Frechheit und Anmaßung kaum mehr zu überbieten. Wenn es so wäre, dürfte es überhaupt keine Wahlen geben und die Demokratie sollte dann auch lieber ganz abgeschafft werden. Wer nicht zum Fremdschämen neigt, kann sich getrost noch einmal die hochnotpeinlichen Antworten von Bundestagsabgeordneten ansehen, die so gar nicht wussten, über was sie da beim europäischen Rettungsschirm eigentlich abstimmten. Schlechter kann das ein „normaler“ Bürger gar nicht machen.
Bei der angeblichen Verzögerung von Verfahren und der besseren Praktikabilität der repräsentativen Demokratie kann man auch nur noch fragen: Wozu macht man es denn? Damit die Verwaltung wie geschmiert läuft? Dann soll man aber bitte nicht hochtrabend von Volkssouveränität reden.
Ähnlich schwach sind auch alle anderen Einwände: Angst vor der Einführung der Todesstrafe oder der Abschaffung der Demokratie sind unbegründet, schließlich ist das auch dem Parlament durch eine Schranke im Grundgesetz nicht möglich, die auch für Volksentscheide gelten würde; Beeinflussung durch Lobbyisten lassen sich aus bisherigen Erfahrungen nicht belegen oder sie ist nicht erfolgreich, die weitgehend geheime PR-Einflussnahme auf einzelne Abgeordnete ist dagegen viel einfacher, und nur schwierig überhaupt aufzudecken.

Das Totschlagargument mit den schlechten Erfahrungen aus der Weimarer Republik ist übrigens völliger Unsinn. Zwischen 1919 und 1933 gab es ganze zwei nationale Volksentscheide, beide scheiterten. Die Nazis haben die Macht bekannter Weise über das Parlament an sich gerissen, dem Ermächtigungsgesetz stimmten am 23. März 1933 außer den Sozialdemokraten alle im Reichstag vertretenen Parteien mit Zweidrittelmehrheit zu.

Viele der bisherigen Volksabstimmungen in den Ländern zeigen, dass es weniger eine Politik-, als eine Parteienverdrossenheit gibt. Die Niederlage von SPD-Chef Sigmar Gabriel, die Partei bei der Kanzlerkandidatenkür auch Nicht-Mitgliedern zu öffnen, deutet darüber hinaus an, worum es auch bei der Ablehnung von bundesweiten Volksentscheiden eigentlich geht: Macht und die Furcht, sie zu verlieren. „Wenn auch Nichtmitglieder über den Kanzlerkandidaten abstimmen können, was habe ich dann noch von einer Mitgliedschaft?“, war aus der SPD zu hören.

Was bei einem Gesinnungsverein ja noch angehen mag, ist für ein dem Allgemeinwohl verpflichteten Abgeordneten dann schon ignorant. Der Großteil von ihnen wird aber kaum anders reagieren, wenn es darum geht, ob ihnen durch direkte Volksbeteiligung in ihre Entscheidungen und ihre in Parteikarrieren erworbene Macht frecherweise „reingepfuscht“ werden soll.

Volksentscheide sind kein Allheilmittel und sie sind in der Durchführung auch nicht trivial. Dass sie auch auf Bundesebene durch die Formulierung des Artikels 20 zu Wahlen und eben ausdrücklich auch „Abstimmungen“ möglich sind, zweifelt heute kaum mehr jemand an. Es gibt vom Verein „Mehr Demokratie!“ und SPD, FDP, Grünen sowie der Linken inzwischen ausgeklügelte Vorschläge, wie sie auch im Bund durchzuführen wären, mit Initiativen, Quoren, Beteiligung des Bundestages und so fort. Auch schwächer wird die repräsentative Demokratie durch einzelne Volksentscheide wohl kaum, denn viele der durchaus nötigen Entscheidungen wird weiter das Parlament treffen und auch ausarbeiten. Es gibt halt ein bisschen Konkurrenz. Die gilt es natürlich ebenso wenig zu idealisieren wie die Ämter der repräsentativen Demokratie. So wie jetzt Herr Gauck in der Ämter-Ecke mal durchwischt, könnten Volksentscheide unsere Demokratie ein wenig durchlüften.

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