Die FDP braucht Dr. Frankenstein

Von Siegesmund von Ilsemann

Gehören auch Sie noch zu den unentschlossenen Wählern? Die aktuellen Umfragen zeigen: Die FDP legt mit klaren Positionen in diesen Tagen deutlich zu.
(Slogan der FDP unmittelbar vor der Wahl in Berlin)

Einen Tag Denkpause sollte sich wohl gönnen, wer die ebenso vernichtende wie verdiente Wahlniederlage der FDP in Berlin kommentieren will. Doch die Klugsprecher auf allen Kanälen konnten am Sonntagabend mal wieder ihr Wasser nicht halten:
Noch ehe die ersten Stimmen ausgezählt waren, skandierten die Analysten der veröffentlichten Meinung eilends „Debakel“, „Desaster“, „Katastrophe“ – garniert mit staatstragender Häme, die Freidemokraten seien über den nationalpopulistischen Anbiederungsversuch ihres Vor-Knaben Philipp Rösler gestolpert, der sich in einem durchsichtigen Verzweifelungsakt als Euro-Skeptiker der letzten Stunde zu profilieren versucht hatte.
Gewiss, Röslers platte Unverfrorenheit mag den einen oder anderen FDP-Sympathisanten dazu gebracht haben, seine Stimmkreuzchen an anderer Stelle zu setzen oder beim Sonntagsspaziergang lieber gleich ein Lokal ohne „Wahl“ davor anzusteuern. (Dass „Mutantrinken“ für den Wahlabend angesagt war, hatte sich ja vorher schon mehr als nur angedeutet.)
Die Kritik am Euro-Rettunsschirm hat den Freidemokarten jedoch vermutlich auch etliche nationalkonservative Stimmen eingebracht (die jedenfalls, die sich nicht in offenem Rassismus vom „wenig deutschen Aussehen“ des adoptierten Vietnamesen Rösler „abschrecken“ ließen). Ohne den Zulauf von rechts wäre der Absturz der Liberalen noch schmerzhafter verlaufen: Aus den Örtsverbänden wurden Hunderte Parteieintritte vornehmlich rechtsgewirkter Euro-Gegner gemeldet, nachdem bekannt geworden war, dass der Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler versucht, per Mitgliederbefragung ein Ja des kleineren Koalitionspartners zur Erweiterung des Rettungschirms zu verhindern.
Den Sturz unter die 2-Prozent-Marke allein der europolitischen Fehldiagnose des Herrn Dr. med. anzulasten, wäre zuviel der Ehre und täte Rösler zudem Unrecht. Damit verliehe man dem jungen Mann ein politisches Gewicht, das ihm in den Augen der breiten Bevölkerungsmehrheit nicht zukommt. Auf NachDenkSeiten.de kleidet der frühere Brandt-Stratege Albrecht Müller diese Wählereinschätzung in die Worte: „Er ist das Gegenteil eines „gstandenen Mannsbilds“, so ein dünnes Bübchen kann man sich eigentlich weder als Vorsitzenden einer Partei noch als Bundeswirtschaftsminister vorstellen. Und schon gar nicht als Vizekanzler.“

Es gab einmal wirkmächtige FDP-Politiker – Genscher, Lambsdorff, Dahrendorf, Scheel. Die Liste könnte beliebig verlängert werden, doch Namen von heute würde man darauf vergeblich suchen. Dass Philipp Rösler nicht das Format seiner Partei-Ahnen besitzt, kann man ihm kaum vorwerfen. Dass dem freidemokratischen Leichtmatrosen dennoch das Ruder des leckgeschlagenen FDP-Bötchens in die Hand gedrückt wurde, ist das Ergebnis der Politik seines Amtsvorgängers Guido Westerwelle. Der hatte gnadenlos den Generationswechsel in der FDP vorangetrieben – ohne Rücksicht auf Befähigung, Ansehen oder Verdienste. Karriere machte, wer Guido zu Willen war.
Zehn Jahre Zeit hatte der sich Zeit genommen, Ansehen und Personal seiner Partei gründlich zu schreddern. Wenigstens das ist ihm gelungen. Herausgekommen ist jene Riege ideologischer Dünnbrettbohrer wie Rösler, Lindner, Bahr & Co, denen als einziger „Überlebender“ von Westerwelles Säuberungsaktion Rainer Brüderle bleischwer als politische Altlast am Hals hing. Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit brauchen andere Repräsentanten.
Ergebnis ist aber auch eine Partei, deren politische Existenzberechtigung mutwillig zerstört wurde. Jahrzehntelang stand die FDP erfolgreich auf zwei Beinen. Traditionell die Partei der Besserverdienenden pflegte sie immer auch ihr Erscheinungsbild als Wahrer der bürgerlich-liberalen Verfasstheit unserer Gesellschaft. Gerade dadurch gelang es ihr, sich sowohl der CDU als auch später der SPD erfolgreich als Koalitionspartner anzudienen: Den in einer verklemmten Ideologie befangenen Rechtschristen führten sie wertvolle Stimmen aufgeklärter Liberaler zu; Willy Brandts Sozialdemokraten verschafften sie später – ein historisches Verdienst – Unterstützung für die neue Ostpolitik bis tief ins bürgerlichen Lager.
Mit dem Ende der sozial-liberalen Koalition begann der Abstieg der FDP zur reinen Klientelpartei. Aber es blieb Guido Westerwelle vorbehalten, das so wichtige zweite Standbein der Liberalen zu amputieren. Auch noch die letzten Sinnträger der sozial-liberalen Zeit wurden kalt gestellt. Als „one-issue-party“ trieben die Freidemokraten nun bewegungsunfähig ihrem sicheren Untergang entgegen.
Nein, sie wurden getrieben von einem 18-Prozent-Strategen, der darauf setzte, seiner Partei allein dadurch zu neuer Bedeutung verhelfen zu können, dass er ganz unverhohlen an die Gier und den Geiz einer völlig enthemmten neoliberalen Ära appellierte. Zunächst schien ihm der erstaunliche Erfolg der (Neo-)Liberalen bei der letzten Bundestagswahl Recht zu geben.
Doch – einer nach dem anderen – platzten die Schecks, mit denen Westerwelle beim Wähler den Erfolg seiner Partei bezahlen wollte. Sein Mantra „mehr Netto vom Brutto“ entpuppte sich ganz schnell als das, was es von Anfang an gewesen war, – eine hohle Phrase. Statt mehr Geld in ihren Taschen zu finden, sahen vor allem die abhängig Beschäftigten ihr Einkommen in einem Tempo schrumpfen, das in der bundesrepublikanischen Geschichte beispiellos ist.
Westerwelles Lockruf „Steuersenkungen“, mit dem er viele von denen zur Wahl der FDP geködert hatte, deren immerhin noch wachsendes Einkommen eine steigende Steuerlast zu Folge hatte, verhallte ungehört – der große Koalitionspartner, Merkels CDU, sah schlicht keinen Spielraum für Steuergeschenke.
Doch selbst gebrochene Wahlversprechen, wahrlich kein Alleinstellungsmerkmal der FDP in der deutschen Politik, hätten die Freidemokraten wohl nicht ins politische Abseits befördert, hätte es Westerwelle nicht auch verstanden, die freidemokratische Kernklientel nachhaltig zu verprellen: Sogar dort, wo die Konservativ-Liberalen stets ein sicheres Wählerreservoir besaßen, gelten FDP-Funktionäre nur noch als jene missratenen Verwandten, mit denen man – peinlich berührt – möglichst nicht gesehen werden möchte:
Ein Außenminister, der seine Hauptaufgabe darin zu sehen scheint, international unübersehbaren Flurschaden anzurichten; ein Wirtschaftsminister, dem als prägende Neigung die zur Gastwirtschaft nachgesagt wird; und zwei Gesundheitsminister, die ganz offen Interessen privater Krankenkassen zu Lasten der gesetzlichen fördern, in denen das Gros der Bevölkerung versichert ist.
Besonders peinlich ist enttäuschten Kern-FDPlern offenbar jene allzu unverfrorene Begünstigungspolitik, mit der Westerwelle & Co. das Fundament unseres sozialen Gefüges zu sprengen suchen. „Spät-römischer Dekadenz“ hatte der freidemokratische Vordenker die Bedürftigen dieser Gesellschaft gescholten – in einer Zeit, in der die Gewinne der Unternehmen explodieren und sich die Schere zwischen den zehn Prozent Vermögenden und dem Rest der Gesellschaft in geradezu obszöner Weise geöffnet hat. Während die FDP auch nach der Wahl weiter auf Kürzungen im Sozialbereich drängte, verschaffte sie einer ihrer Klientelgruppen völlig überraschend und ebenso unbegründet ein millionenschweres Steuergeschenk – dem Hotel- und Gaststättengewerbe.
Vielleicht war es diese Hoteliers-Steuer, die das FDP-Boot endgültig kentern ließ. Sie legte das eigentliche Ziel der Freidemokaten bloß – die Aufkündigung des Sozialvertrags, der die prosperierende Entwicklung der Bundesrepublik in den vergangenen sechs Jahrzehnten überhaupt erst ermöglicht hat. Nutznießer waren nicht nur „kleine Leute“, denen mit sozialer Absicherung und steigenden Einkommen immerhin ein kleiner Teil des wachsenden Wohlstandes zugestanden wurde.
Vor allem die Vermögenden und Besitzenden profitieren von diesem Gesellschaftsvertrag, erlaubt er ihnen doch, ungestört den Löwenanteil des gesellschaftlich erwirtschafteten Gewinns einzustreichen. Eine Aufkündigung dieses Vertrages oder auch nur eine allzu unverfrorene Begünstigungspolitik für die schon jetzt überaus Begünstigten, die das Gerechtigkeitsempfinden einer breiten Bevölkerungsmehrheit sprengt, gefährdet und zerstört womöglich auch die Fundamente jenes extraordinären Reichtums. Die Forderung Superreicher nach höheren Steuersätzen ist ein deutliches Zeichen dafür, dass diese Einsicht und/oder Angst in der Gesellschaft wächst – nur offenbar nicht in der FDP.
Die klammert sich weiter an ihre neoliberalen Glaubenssätze. Mit denen kann sie aber nicht einmal mehr ihre eigene Existenz sichern geschweige denn möglichen Koalitionspartnern ein Stimmenplus verschaffen. Die FDP ist damit auch machtpolitisch überflüssig. Sie hat sich überlebt – Westerwelle sei Dank.
Statt eines Dr. Rösler bedürfte es schon eines Dr. Frankenstein, um diesem toten Korpus noch einmal Leben einzuhauchen.

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