DEUTSCHLAND-Tagebuch: 18/12/15 – NSU xy ungelöst

Autoren betrachten kleine und große Ereignisse, die dieses Land prägen und nicht in der täglichen Nachrichtenflut untergehen sollten. Persönliche und politische Gedanken. Ein deutsches Tagebuch.

Von Michael Kraske

debattiersalon: Deutschlandfahne, schwarz-rot-gold,Marion Kraske @ 2014Neulich, als Beate Zschäpe in München ihre Nichts-gewusst-nichts-gemacht-Aussage verlesen ließ, schwappte die Aufmerksamkeit noch einmal kurz hoch. Genau genommen waren viele Journalisten aber nicht an den vielen ungeklärten Fragen zum NSU-Komplex interessiert, sondern vor allem an Beate Zschäpe, an ihrem Haarschnitt, an ihrer Befindlichkeit. Abends wurde bei Anne Will ein bisschen getalkt. Die unvermeidliche Gisela Friedrichsen fabulierte in Kennerpose über Zschäpes Beweggründe für ihre Aussage, aber als NSU-Nebenkläger Mehmet Daimagüler Fragen nach institutionellem Rassismus bei der Polizei und ausbleibenden Konsequenzen stellte, reagierte die Runde verschnupft. Jetzt hat der zweite Untersuchungsausschuss des Bundestages – NSU-Terrorgruppe II – seine Arbeit aufgenommen. Im vorweihnachtlichen Nachrichtenrauschen war das nur Treibholz. Die Medien sind müde vom NSU. Die Leute auch. Dabei gibt es viele verstörende Gründe, hellwach zu sein, weiter zu wühlen, Antworten einzufordern.

Der Untersuchungsausschuss hatte mit Andrea Röpke und Dirk Laabs zwei der versiertesten Kenner und besten Rechercheure rechtsextremistischer Strukturen beziehungsweise des NSU-Komplexes als Sachverständige eingeladen. Laabs forderte die Mitglieder auf, die Rolle staatlicher Behörden, vor allem des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) aufzuklären. Wichtige Akteure hätten bis heute nicht Rede und Antwort gestanden, weder über die V-Leute noch über die massenhafte Vernichtung von Akten nach Auffliegen des NSU. Laabs kritisierte, dass staatliche Akteure bis heute die Aufklärung verweigern. Vor allem Sachsen, wo der NSU seine Terror-Zentrale hatte, sei einer der „dunkelsten Flecken“. In den Sicherheitsbehörden habe es keinerlei disziplinarische oder rechtliche Konsequenzen gegeben. Andrea Röpke sprach von einer neuen, sehr konkreten Terrorgefahr, und die gehe von Rechtsextremisten aus. Fremdenfeindliche Ausschreitungen würden von organisierten Rechtsextremisten gesteuert.

Belohnung für Aktenvernichtung

Das sind ganz konkrete, auf akribischer Recherche basierende Vorwürfe und Erkenntnisse zum NSU-Komplex. Aber hat das Land nicht längst ganz andere Probleme? Die vielen Flüchtlinge? Den grassierenden Hass auf sie? Die AfD? Zur Erinnerung sei noch mal an einige wunde Punkte erinnert, offene Fragen, die das Zeug zur Staatsaffäre haben und weiter schwelen, weil sie erfolgreich verdrängt wurden.

Da ist das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), dessen Kompetenzen im Zuge des NSU-Komplexes sogar noch gestärkt wurden, obwohl nach Auffliegen der Terror-Gruppe geradezu eine Aktenvernichtungsorgie einsetzte, die bis heute nicht zufriedenstellend aufgeklärt wurde. Warum wurde geschreddert? Wer wusste davon und gab den Auftrag? Das Ausmaß der Aktenvernichtung spricht für Vertuschungsabsicht, nicht für individuelle Ausrutscher. Zwischen November 2011 und Juli 2012 wurden im Bundesamt über 300 Akten über Rechtsextremisten geschreddert, ohne dass jemand dafür belangt worden wäre.

Zudem wurden die Mitglieder des ersten Bundestagsausschusses über die Zuständigkeit für die drei Terroristen innerhalb des BfV getäuscht. Erst nach mehr als 100 Sitzungstagen erfuhren sie, dass es in der Abteilung für Rechtsextremismus des BfV ein eigenes Terrorreferat namens 22F gab. Was das genau tat und wie nah es dem NSU kam, konnte nicht mehr untersucht werden, weil der Ausschuss kurz danach seine Arbeit beendete.

Neonazis werden weiter als V-Leute gesponsert

Ungeklärt ist bis heute, ob und wie viele lokale Helfer der NSU hatte, um etwa die Mordopfer auszuwählen und ob es etwa beim Mord an Michèle Kiesewetter weitere Täter gab. Offen ist auch die Frage, wie nah die V-Leute dem NSU kamen und welche Informationen über die Terroristen tatsächlich in die Verfassungsschutzbehörden zurück flossen. Trotz der offenkundig monströs gescheiterten Strategie, ideologisch gefestigte Neonazis zu bezahlen, hat die Große Koalition nicht nur an der V-Leute-Praxis festgehalten, sondern diese auch noch rechtlich gestärkt. Man wolle sich nicht blind machen, sagte ein hochrangiger SPD-Politiker mal unter vier Augen zu mir. Dann vertraut man lieber weiterhin überzeugten Neonazis und sponsert sie.

Demokratische Ungeheuerlichkeiten wurden bis heute nicht korrigiert. Dass in Hessen der heutige CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier die „Interessen“ des Landes Hessen über die Mordermittlung im Fall Halit Yozgat stellen konnte und der Schutz von V-Leuten somit die Aufklärung eines Mordes behindern darf, wird bis heute hingenommen und bleibt damit geltende Praxis. Ebenso das Mauern des hessischen Verfassungsschutzes, der alles tat, um seinen Mitarbeiter Andreas T. zu schützen, der sich zur Tatzeit in dem Kasseler Internetcafé aufhielt, in dem Halit Yozgat erschossen wurde. Kaum einer glaubt noch den kruden Darstellungen von Andreas T., warum er in dem Internet-Café gewesen sei und dass er nichts von dem Mord bemerkt haben will. Warum hat sich der Verfassungsschutz so bedingungslos vor ihn gestellt?

Polizisten beim Ku-Klux-Klan

Öffentlich hingenommen wird bis heute auch, dass sich in Baden-Württemberg Polizisten im Umfeld der ermordeten Michèle Kiesewetter in einem Ableger des rassistischen Ku-Klux-Klans organisieren durften, ohne dafür entsprechend hart belangt zu werden. Rassistische Agitation und Organisation ist innerhalb der Polizei wie ein verzeihliches Kavaliersdelikt behandelt worden.

Keine Konsequenzen, nirgends. Stattdessen verstörende Kontinuitäten und erstaunliche Karrieren. Klaus-Dieter Fritsche, der von 1996 bis 2005, also auch während der NSU-Mordserie, Vizepräsident beim Bundesamt für Verfassungsschutz war, steigt unter Angela Merkel zum Geheimdienst-Koordinator im Bundeskanzleramt auf. Gordian Meyer-Plath, der in Brandenburg als Anfänger den V-Mann Piatto geführt hatte und das vor dem ersten Berliner Untersuchungsausschuss als Erfolgsgeschichte darstellte, spülte es nach Auffliegen des NSU an die Spitze des sächsischen Verfassungsschutzes. Die dortige Aktenvernichtung rechtfertigt Meyer-Plath vor Journalisten bisweilen weiterhin als Standardverfahren, was nicht eben für eine gesteigerte demokratische Sensibilität spricht. Ebenso wenig wie befremdliche Verlautbarungen über Pegida und asylfeindliche Proteste, bei denen seine Behörde lediglich die Gefahr erkennt, dass diese von Rechtsextremisten für ihre Zwecke missbraucht werden könnten. Ganz so, als hätten aggressiver Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und völkische Mobilisierung nichts mit Demokratiefeindlichkeit zu tun.

NSU ist politisches Minenfeld

Der neue Berliner NSU-Ausschuss hat die Chance, die hässlichen blinden Flecken der Mordserie mit schmerzhaften Wahrheiten zu füllen. Er kann aufklären, was beim NSU-Prozess in München außen vor bleibt. Das staatlich unterwanderte Unterstützerumfeld, das bis heute tätige rechtsextremistische Netzwerk, Rolle, Fehler und unkontrollierte Alleingänge der Verfassungsschutzbehörden.

Es gibt politische Befindlichkeiten und Minenfelder, die öffentlichen Druck nötig machen. Die SPD ist wegen ihres ehemaligen Ausschuss-Vorsitzenden Sebastian Edathy wenn schon nicht befangen, so doch gehemmt. CDU und SPD haben sich voreilig im Sinne einer Staatsräson dafür entschieden, die Verfassungsschutzstrukturen weitgehend unangetastet zu lassen. Bessere parlamentarische Kontrolle ist nicht erkennbar. Es ist gut, dass es in Berlin einen neuen NSU-Ausschuss gibt. Aber er ist kein Selbstläufer. Je größer das gesellschaftliche Desinteresse, umso leichter haben es vom Staat bezahlte Abwiegler und Aussitzer, einfach weiter zu machen, als sei nichts geschehen. Angela Merkel hat den Angehörigen der NSU-Opfer umfassende Aufklärung angeboten. Das Versprechen ist noch nicht annähernd eingelöst.

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