Autoren betrachten kleine und große Ereignisse, die dieses Land prägen und nicht in der täglichen Nachrichtenflut untergehen sollten. Persönliche und politische Gedanken. Ein deutsches Tagebuch.
Von Michael Kraske
Achtklässler quälen Flüchtlingskinder in einer Schule. Sie schubsen und spucken, werfen mit Steinen, klemmen sie in Türen ein. Ein neun- und ein 14-Jähriges Mädchen erleiden Quetschungen, eine Knochenabsplitterung. Notarzt, ein Gipsarm. Warum? Weil sie es wagten, an der Pestalozzi-Oberschule in Wurzen, Sachsen, einen Deutschkurs zu besuchen. Deutsche Kinder quälen ausländische Kinder, weil sie fremd sind und nicht hier sein sollten. Der Hass, der jeden Montag in Dresden und anderswo durch die Straßen zieht, ist bei den Kindern angekommen. Innerhalb weniger Wochen mehrere Taten in dieser Schule. Was haben die Lehrer gemacht? Warum hat niemand eingegriffen, als noch kein Knochen gesplittert war? Was passiert jetzt mit den jungen Tätern? Die Polizei erklärt, die Schulleitung halte Gespräche mit deren Eltern für sinnlos. Ja, der Hass muss irgendwo her kommen, wird gezüchtet, wächst nicht von allein. Was tun mit Eltern, die mit Flüchtlingskindquälen kein Problem haben? Wie deren Kindern Respekt und Mitgefühl und Anstand beibringen?
Kinder nehmen sich Vorbilder. Eltern geben Vorbilder ab. Wir gewöhnen uns. Seit einem Jahr gewöhnen wir uns. An Menschen, die abwechselnd Weihnachtslieder singen und in Nazi-Jargon gegen „Volksverräter“ und „Lügenpresse“ geifern. Daran, dass Menschen in Not als “Invasoren” an den Pranger gestellt werden. An den virtuellen Blutrausch, der sich das ausländische „Viehzeug“ und „Dreckspack“ wahlweise aufgehängt oder halsaufgeschnitten wünscht. Daran, dass diese hasszerfressenen Menschen das in den allermeisten Fällen ungestraft tun können. Wir gewöhnen uns daran, dass auf unseren Straßen und Plätzen volks- und selbstberauschte Redner ein neues 1000-jähriges Reich herbei schreien wie schlechte Laien-Darsteller, die sich an den nationalsozialistischen Originalen versuchen.
Wir gewöhnen uns daran, dass hart- und kaltherzige Politniemande, die Journalisten als „Pinocchiopresse“ diffamieren, in Talkshows auftreten, als gehörte ihnen dieses Land, während die Anhänger antidemokratischer Diffamierungen unverhohlen davon raunen, der Wind werde sich bald drehen und die Volksfeinde würden sich schon noch wundern. And the poets down here don´t write nothin´ at all. They just stand back and let it all be, sang Bruce vor über 40 Jahren. Wo ist eigentlich Richard David Precht? Der weiß doch sonst immer alles und sagt das auch gern. So viel Schweigen. So viel Gewöhnung. Ein anderer Poet, Konstantin Wecker, auch schon lange her: „Ob du sechs bist oder hundert, sei nicht nur erschreckt, verwundert. Tobe, zürne, misch dich ein, sage nein!“