Ungarn: Abenddämmerung einer Demokratie?

Von Anton Pelinka, Professor für Politikwissenschaft und Nationalismusstudien an der Central European University, Budapest

Wenn man die Politik der Regierung Orban einer Kritik unterzieht, fällt es schwer, mit dem unprofessionellen Dilettantismus der FIDESZ- Regierung zu beginnen oder mit deren Neigung, eine Tyrannei der Mehrheit zu etablieren.

Dilettantisch ist, wie diese Regierung die ungarische Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs führt. Mit Berufung auf die nationale Souveränität des Landes die Verbindung zum IWF abzubrechen, nur um dann, Monate später, den IWF wieder um Hilfe bitten zu müssen; der EU Belehrungen zu geben (etwa: „Der Westen hat ausgedient“), als wäre Ungarn – immerhin in der ersten Hälfte 2011 die rotierende EU-Ratspräsidentschaft – nicht Teil der Union, als wäre Ungarn die Mitgliedschaft in der Union aufgezwungen worden: Alles das ist ein pubertäres Verhalten einer Partei, die immerhin seit 22 Jahren im ungarischen Parlament sitzt und schon einmal – von 1998 bis 2002 – den Regierungschef (denselben Viktor Orban) gestellt hat. Die Regierung wirkt wie eine Partie von Amateuren, die das Rad neu erfinden wollen – und damit eine kritische Lage nur noch schlimmer machen.
Die Folge: Ungarn ist am Rande des Staatsbankrotts. Während Polen, die Tschechische Republik und die Slowakei seit der Transformation und seit dem EU-Beitritt beachtliche Erfolge bei der Stabilisierung von Demokratie und Wirtschaft aufzuweisen haben, ist die Bilanz des vierten der Visegrad-Staaten, eben Ungarns, negativ. Die Wirtschaft ist in einem katastrophalen Zustand. Und die Regierung versucht, mit nationalistischer Symbolpolitik – wie etwa dem Einbau nationaler Mythen in die Verfassung – über ihre drohende wirtschaftliche Handlungsunfähigkeit Ungarns hinwegzutäuschen.

Gefährlich für den demokratischen Charakter Ungarns ist, dass die mit einer Zweidrittelmehrheit regierende FIDESZ auf mehreren Ebenen an die Grenzen des für eine Demokratie Akzeptablen geht – oder auch darüber hinaus. Eine von der Regierung abhängige Behörde erhält verstärkte Eingriffsrechte in die Medienfreiheit. Die Unabhängigkeit der Nationalbank wird relativiert. Die Kompetenz des Verfassungsgerichtshofes ist eingeschränkt. Die Hürde für Religionsgemeinschaften, staatlich anerkannt zu werden, wird signifikant erhöht. Und das Wahlrecht wird in einer Form verändert, die der Regierungspartei nur nützen kann.

Das alles legitimiert die regierende Mehrheit mit dem Mandat, das sie 2010 in freien Wahlen erhalten hat. Und tatsächlich hat FIDESZ der Unmut über die acht Jahre der liberal-sozialistischen eine breite Mehrheit verschafft. Doch diese nützt FIDESZ nicht dazu, einen breiten Reformkonsens herzustellen, sondern um zu demonstrieren, dass sie keinerlei Kompromisse einzugehen braucht.

Jede einzelne der Veränderungen, die FIDESZ, die Partei der „Jungdemokraten“, mit Hilfe ihrer Verfassungsmehrheit durchdrückt, wird von der Regierung mit Hinweis auf analoge Bestimmungen in anderen Demokratien verteidigt. Von Fall zu Fall mag dies auch plausibel erscheinen. Aber es ist die erkennbare Absicht einer Mehrheit, in einer konzertierten Aktion Minderheitenrechte zu schwächen und die Autonomie zentraler demokratischer Institutionen zu reduzieren, die Alarmglocken läuten lässt.

Dass die Regierung Orban demonstrativ desinteressiert an einem breiteren Konsens ist, hängt auch mit ihrem Bemühen zusammen, die von ihr beschlossene, am 1.1.2012 in Kraft getretene neue Verfassung als die eigentliche Abkehr vom kommunistischen System zu stilisieren. Orban tut so, als wären die zwanzig Jahre, die nach der friedlichen Transformation des Kadar-Systems verstrichen sind, nur halbherzige Schritte gewesen, die viele Merkmale der alten KP-Herrschaft unangetastet gelassen hätten. Damit widerspricht er nicht nur seiner eigenen Rolle bei der Transformation der Jahre 1989 und 1990, er verniedlicht auch eine demokratische Erfolgsbilanz: Seit 1990 kennt Ungarn ein System der freien Wahlen; seit 1990 hat es, als Zeichen der Stabilisierung der Demokratie, mehrere friedliche Regierungswechsel gegeben. Und es war ein auch von Orban mitgetragener Konsens, der Ungarn in die NATO und in die EU geführt hat.

Dass die Regierung Orban dies alles herunterspielt und so tut, als müsste Ungarn erst jetzt befreit werden, passt in die nationalistische Agenda, die diese Regierung forciert. Das Spiel mit dem Vertretungsanspruch, den Orban für die ungarischen Minderheiten außerhalb Ungarns erhebt, ist zwar nicht neu. Es gefährdet aber das friedliche Einvernehmen mit anderen, ebenfalls der EU angehörenden Nachbarn, insbesondere mit der Slowakei.

Ist Ungarns Demokratie in Gefahr? Solange diese Regierung ein Interesse daran hat, Mitglied der EU zu bleiben; solange Orbans Partei in der Europäischen Volkspartei ist, zu deren Mitgliedern auch die CDU/CSU zählt, können europäische Akteure das Schlimmste verhindern. Noch sind die politischen Grundfreiheiten nicht in unmittelbarer Gefahr. Aber diejenigen, die diese Grundfreiheiten verteidigen, sind für jede europäische Hilfe dankbar.

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