Stuttgart 21: Triumph der krummen Tour

Von Marion Kraske

Günther Öttinger darf sich freuen: Der frühere Ministerpräsident von Baden-Württemberg hat ein eindrucksvolles Lehrstück darüber eingeleitet, wie weit Politiker zu gehen bereit sind, wenn sie ihre – mitunter höchst zweifelhaften – Ziele gegen Widerstände durchdrücken wollen. Stuttgart 21, das umstrittene Bahnhofsprojekt, jedenfalls wird gebaut. Nicht nur, aber auch Öttingers krummen Touren sei Dank.
Der heutige EU-Kommissar, der nicht eben aus professioneller Eignung nach Brüssel entsandt wurde, hat in seiner Regierungszeit, so berichtete es jüngst Der Spiegel, augenscheinlich Informationen über eine Kostenexplosion beim Bauprojekt mit Bedacht verschwiegen. Opposition und Parlament wurden danach über die aus dem Ruder laufenden Kosten im Dunkeln gelassen, man könnte auch sagen: Für dumm verkauft.
Landesbeamte gingen demnach nach Berechnungen der Bahn schon 2009 davon aus, dass der neue Bahnhof mindestens 4,9 Milliarden Euro, möglicherweise bis zu 6,5 Milliarden Euro verschlingen werde. Ungleich mehr also als die in der eigentlichen Planung veranschlagten 4,5 Milliarden. In einem Aktenvermerk sollen die Beamte angegeben haben, dass der MP, also Öttinger, keine neuen Berechnungen wünsche. Das Ganze, so die Begründung, ließe sich nur schwer kommunizieren.
Ein (schwarzer) Ministerpräsident also, der um sein Volk bangte, der Angst hatte, die düstere Wahrheit zu verbreiten, weil das tumbe Volk möglicherweise auf noch dümmere Ideen gekommen wäre und das als Jahrhundertprojekt angepriesene Mammutvorhaben abgelehnt hätte. Also schön dicht halten. Nichts verraten. Wo kämen wir denn dahin, wenn alle alles erfahren, wenn Regierende und Bürger die gleichen Informationen erhalten? Wenn es keine Unterschiede mehr gibt zwischen denen da oben und dem Fußvolk da unten? Furchtbar wäre das – die reinste Anarchie.
Mann muss das verstehen: Nach mehr als 50 Jahren ununterbrochener Regierungszeit kommt der regierenden Kaste schon mal das Gespür dafür verloren, was eine Demokratie von einer – nennen wir es mal – Meinunsgdiktatur unterscheidet: Der freie Zugang zu allen Informationen, zumal zu jenen, die im Zusammenhang mit einer politischen Entscheidung eine tragende Rolle spielen. Transparenz, Offenlegung aller Daten und Fakten, nein, das muss ja nun wirklich nicht sein, dachte sich der Oberschwabe Öttinger. Wissen schafft Macht. Öttinger entschied sich augenscheinlich für beides: Für das Herrschaftswissen und die Macht. Die Macht, ein umstrittenes Bauvorhaben auf Biegen und Brechen zu realisieren. Gegen die durchaus berechtigten Argumente einer kritischen Masse, die neben den ökologischen Aspekten immer auch die nicht zu zügelnden Baukosten angeführt hatte.
Macht also – auch wenn ihm letztere alsbald von der eisernen Kanzlerin mit einem Wink nach Brüssel genommen wurde und er seither als radebrechender Schwabe gegen das eigene fremdsprachliche Unvermögen ankämpft.

Und nun also der Volksentscheid. Die Mehrheit der Befragten befürwortet die Tieferlegung des alten Kopfbahnhofes und den Bau eines neuen, die breit angelegte PR-Maschinerie, mit denen die Bürger seit Wochen beglückt wurden, war demnach furios erfolgreich. Wenn schon keine relevanten Informationen, dann doch wenigstens wohlmeinende, aus Steuermitteln finanzierte Entscheidungshilfen, die Volkes Willen wieder in geregelte Bahnen leiten. In Russland nennt man so etwas gelenkte Demokratie. Nun hat diese besondere Spielart vordemokratischen Verhaltens auch hierzulande funktioniert.
Was macht es da, dass Berechnungen unabhängiger Experten ergeben, dass der alte Kopfbahnhof ungleich leistungsfähiger sein könnte als der als Super-Mega-Zukunftsprojekt gepriesene milliardenverschlingende Neubau? Und zwar mit nur minimalen Baukosten von fünf Millionen Euro?
Ungeachtet dieser schlagenden Argumente müssen die Gegner des neuen Bahnhofes nun eine furiose Niederlage hinnehmen. Umsonst war ihr Aufbegehren dennoch nicht: Ihr Protest machte aus einem lokalen Bauvorhaben ein bundesweites Streitthema. Das Wahlvolk wurde sich seiner Stimme bewusst, der Protest trug dazu bei, die Vorherrschaft einer Partei nach einem halben Jahrhundert zu brechen. Allein schon deshalb war das Aufbegehren gegen Stuttgart 21 ein demokratiepolitischer Erfolg. Nicht zuletzt das selbstherrliche Gebaren Öttingers und seines Nachfolgers Mappus wurde beim Urnengang abgestraft.
Zur Demokratie gehört es aber auch, Abstimmungsergebnisse zu akzeptieren.
Stuttgart 21 wird gebaut, der neue grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, ein entschiedener Gegner von Stuttgart 21, muss sich jetzt daran machen, das von ihm lange Zeit bekämpfte Bauvorhaben umzusetzen.
Das ist Teil der demokratischen Spielregeln. Dass er nun bereits mit der Bahn um die Übernahme der zusätzlichen Kosten feilschen muss, dass nicht klar ist, wer die Mehrkosten trägt, wenn der Deckel von 4,5 Millarden Euro gesprengt wird, belegt nur einmal mehr, wie sehr die Vorgänger in der Startphase des Projektes mauschelten, um berechtigte Gegenargumente im Sande verlaufen zu lasen. Der neue Bahnhof wird damit nicht zum Symbol eines modernen Prestigeobjekts, sondern steingewordener Nachweis politischen Machtmissbrauchs.

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