Pegida: Die befreiende Wirkung des Sündenbocks

Von Michael Kraske

Die Pegida-Bewegung hat ein Klima der Angst unter Migranten erzeugt. Verständnis ist eine gefährliche Reaktion auf rassistische Stimmungsmache. Die Opfer werden ausgeblendet

Der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt hat in einem Interview die befreiende Wirkung der Pegida-Bewegung betont: „Die einen empfinden das nun als eine Befreiung, dass sich endlich ein Ventil geöffnet hat, wo Dinge durch die Gebote und Verbote politischer Korrektheit unter dem Deckel gehalten worden sind, nun auch an die Öffentlichkeit kommen. Und die anderen ringen um die Beibehaltung der jahrzehntelang funktionierenden linksliberalen oder grünen oder mittigen politisch korrekten Hegemonie.“ Folgt man Patzelt, ist geradezu ein Zustand gesellschaftlicher Normalität eingetreten, indem Menschen öffentlich eine Religion zur Krankheit oder Ausländer zu Drogendealern erklären. Hat Pegida also nur die bei Konservativen so verhasste political correctness niedergebrüllt?

Dieser Tage wird viel Verständnis dafür gezeigt, dass Migranten, Muslime und Ausländer zu Sündenböcken gemacht werden. Der sich fremd und bedrohlich ausgemalte Sündenbock als Träger allen gesellschaftlichen Übels erlebt durch Pegida eine hässliche Wiedergeburt. Die Pogrom-Tage von Rostock-Lichtenhagen sind beinahe vergessen. Damals endete die Stimmungsmache gegen „Asylbetrüger“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ damit, dass die Polizei tatenlos zusah, wie Gewalttäter versuchten, ein Haus anzuzünden, in dem sich Vietnamesen vor einem wütenden Mob verschanzen mussten. Dass sie überlebten, war nur Glück. Auch die Gewalttäter von Rostock-Lichtenhagen mögen ein Gefühl der Befreiung empfunden haben.

Die psychologische Funktion von Rassismus

Rassistische Abwertungen mögen psychologisch betrachtet für den Rassisten eine selbstwertstabilisierende und identitätsstiftende Funktion haben. Aber sie haben katastrophale Folgen. Die Opferberatungsstellen für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt in Ostdeutschland beobachten seit Beginn der Pegida-Demonstrationen eine „Zunahme rassistischer Angriffe“ sowie „unerträgliche Hetze gegen Flüchtlinge und Muslime im Internet, mit Aufrufen zu Brandstiftung und Gewalt“.

Bundestagsabgeordnete mit Migrationshintergrund berichten auf Spiegel Online, wie sie seit Wochen Beleidigungen und Drohungen ausgesetzt sind. Aydan Özoguz, 47, von der SPD erhielt die Zuschrift: „Du türkische Hure. Hau ab in die Türkei.“ Öczan Mutlu, 47, von den Grünen berichtet: „Seit Beginn der Pegida-Demonstrationen nehmen Beleidigungen auf meiner Facebook-Seite zu. Es scheint, dass das Motto das wird man doch wohl mal sagen dürfen nun alle Diskriminierungen rechtfertigt. Auffallend und besorgniserregend ist, dass viele der KommentatorInnen ihren Namen nicht mehr verstecken.“ Und Sevim Dagdelen, 39, von der Linken sagt: „In letzter Zeit haben die rassistischen Beschimpfungen bis hin zu Morddrohungen zugenommen.“ Offenbar ist im Zuge der Pegida-Bewegung ein Klima entstanden, das die Hemmschwelle für fremdenfeindliche Beleidigungen und Bedrohungen herab gesetzt hat.

Laut Pro Asyl und Amadeu Antonio Stiftung haben rassistische Pöbeleien im Zuge der fremdenfeindlichen Demonstrationen deutlich zugenommen. „Wie auch immer sich Pegida offiziell von Rassismus und Gewalt distanzieren mag: Eine Bewegung, die massiv von rassistischen Ressentiments geprägt ist und sich selbst als Volkes Wille inszeniert, schafft ein Klima, das rassistische Gewalttäter motiviert, den vermeintlichen Volkswillen zu vollstrecken“, sagt Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung. Ali Moradi vom Flüchtlingsrat Sachsen berichtet im Deutschlandfunk: „Woche zu Woche wird es schlimmer, die Atmosphäre ist sehr vergiftet, und die Leute haben Angst. Montags schicken viele ihre Kinder nicht zur Schule. Und die Frauen, die Kopftuch tragen, die trauen sich nicht aus dem Haus.“

Die Angst der Gefürchteten

Derzeit ist viel von Dialog mit Pegida die Rede, von „berechtigten Sorgen und Ängsten der Bürger“. Die sehr reale Angst der Gefürchteten bleibt weitgehend außen vor. Selbst wenn die Analyse zutrifft, dass Pegida Ausdruck einer tieferen Unzufriedenheit und Entfremdung von parlamentarischer Demokratie und Medien ist, bleibt entscheidend, dass sich auf Demos und im Internet aggressive, diskriminierende Fremdenfeindlichkeit Bahn bricht. Für Migranten, die als „Sündenböcke“ herhalten müssen, macht es keinen Unterschied, ob der Hass, der ihnen entgegen schlägt, tiefer Überzeugung oder allgemeiner Unzufriedenheit entspringt. Ob er von Neonazis oder Wutbürgern verbreitet wird.

Jede Woche werden laut Pro Asyl und Amadeu Antonio Stiftung drei Asylunterkünfte angegriffen. Jeden Monat werden sechs Flüchtlinge tätlich angegriffen. Im Jahr 2014 gab es 77 Übergriffe auf Flüchtlinge, 35 Brandanschläge auf Unterkünfte, 118 Sachbeschädigungen an Unterkünften und 255 flüchtlingsfeindliche Demonstrationen. Opfer von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ist nicht eine imaginäre political correctness. Opfer sind Menschen. In diesen Tagen, in denen der Befreiung von Auschwitz gedacht wird, daran erinnern zu müssen, ist ebenso grotesk wie beschämend.

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