Von Siegesmund von Ilsemann
Viel los war nicht am letzten Wochenende bei den Occupisten im Berliner Regierungsviertel.
Bestenfalls ein paar Dutzend Protestierer scharten sich Samstagmittag auf dem Pariser Platz um eine Handvoll Megafon-bewaffneter Campact-Aktivisten. Das Häuflein der Aufrechten ging fast unter im Strom der Touristen, der zwischen dem Luxushotel Adlon und der Straße des 17. Juni durchs Brandenburger Tor wogte. Und auf dem Platz der Republik zu Füßen des Reichstags scheint das Grüppchen der Bankenkritiker, die jeden Tag um 17 Uhr ihren Unmut über Steuergelder für Finanzzocker bekunden, auch eher zu schrumpfen als zu wachsen.
Hilft es der Mobilisierung wirklich, wenn ein paar lied-lustige junge Menschen unter Trommelschlag und mit gregorianischem Ödgesang auf den Lippen als Marsch der Asamblea OCCUPY Berlin durch die Berliner Innenstadt pilgern?
Was läuft schief beim Aufstand gegen den Schuldendienst der Merkel-Mannschaft für die Spekulanten in Banken und Börsen? Schwächelt der Wutbürger angesichts der verwirrend vielen Volten, welche die Akteure in Berlin und Brüssel, von G-8 bis G-20, des Internationalen Währungsfonds und der Finanzministerien beinahe täglich schlagen?
Gespräche mit den Umstehenden am Brandenburger Tor und vor dem Reichstag aber auch repräsentativere Umfragen sprechen gegen ein Nachlassen des öffentlichen Interesses. „Sauerei“, „Betrug“ und „Diebstahl“ sind noch die harmloseren Schimpfworte, die den Menschen über die Lippen kommen, wenn sie sich über das erregen, was in Angela Merkels Kanzleramt gleich gegenüber und dem nur 1000 Meter entfernten Amtssitz von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ausgeheckt wird. Kaum ein Befragter äußert Zustimmung zu einer Politik, die bei den Bürgern statt Verständnis und Vertrauen fast nur noch Ratlosigkeit oder blanken Zorn hinterlässt.
Doch einreihen mögen sie sich dennoch nicht in die „zwei Kreise“, die der Megafonträger zu bilden sucht. „Die in der Mitte setzen sich hin – im Scherensitz etwa, die anderen stellen sich drumherum in den äußeren Kreis“, fordert das Sprachrohr. Ein halbes Dutzend Protestierer hockt schließlich einsam am Boden, umringt von einer sehr lockeren Kette der Plakatträger und erkennbar Bewegten. Dahinter immerhin eine Schar Neugieriger – allerdings mit fast physisch spürbarer Berührungsangst.
Die Kontakthemmung hat gleich mehrere Ursachen. Noch immer agiert die Occupy-Bewegung ohne klare Botschaft. Frust treibt Menschen auf die Straße, führt sie aber nicht zu gemeinsamer Aktion. Unmut, obwohl deutlich spürbar weit über die Schar der Aktivisten hinaus, verpufft, wenn ihm kein Ziel gegeben wird. Demonstrationsslogans wie „Brecht die Macht der Banken und Konzerne“ verhallen, wenn niemand weiß, wie diese Macht zurückgeführt werden kann in die Hände einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Griffige Antworten darauf fehlen bislang den Occupisten.
Statt die zu suchen, beginnt der Sprecher vor dem Adlon eine langatmige Erklärung der Kommunikationsregeln für die „Asambleas“, wie die Occupisten ihre Versammlungen in Anlehnung an spanische Vorbilder nennen. (Für Uneingeweihte klingt schon der fremdsprachige Ausdruck eher abschreckend. „Da musste erst studiert haben, wenn de da mitmachen willst“, unkt ein Passant.)
Das menschliche Mikrofon („human mike“) soll geübt werden, an der Wallstreet erprobt, als die Polizei dort den Einsatz elektronischer Sprechhilfen untersagte. Um dennoch Parolen und Kurzbeiträge für Tausende verständlich zu machen, werden sie von den Sprechern Wort für Wort vorgetragen und Wort für Wort mittels immer neuer Wiederholungen nach außen getragen. Seltsam nur, dass die Protestierer ausgerechnet aus jenem Land unreflektiert ihre Verfahrensregeln entlehnen, aus dem – ebenso unreflektiert – viele jener Übel des Banken- und Finanzgewerbes übernommen wurden, gegen die sie heute aufstehen. Lang lebe der anglophile Modetrend.
Hier im Kreis von ein paar Dutzend Aktivisten, die sich mühelos in Zimmerlautstärke verständigen könnten, grenzt es fast ans Lächerliche, wenn nun „WIR WOLLEN JETZT“ – „wir wollen jetzt“, “wir wollen jetzt“, „wir wollen jetzt“, „DAS MENSCHLICHE“ – „das menschliche“, „das menschliche“, „das menschliche“, „MIKROFON ÜBEN“ – „Mikrofon üben“, „Mikrofon üben“, „Mikrofon üben“, von ein paar Stimmchen durch den fast leeren Kreis gerufen wird.
Geschlossene Gedankengänge, gehaltvolle Analysen lassen sich auf diese Weise kaum verbreiten. Und technisch funktioniert dieser überflüssige Notbehelf (bei uns sind Megafone nämlich nicht verboten) auch nicht sonderlich gut: Schon unter den 3000 Demonstranten, die sich zur ersten „Besetzung“ auf dem Berliner Platz der Republik eingefunden hatten, versank so manche Botschaft im asynchronen Gebrüll der Wiederholungen.
Und dann sind da noch die Handzeichen, die trainiert werden müssen: „Wedeln mit erhobenen Händen“ bedeutet Zustimmung, wie der eigens angefertigte Flyer verrät. Baumeln die Hände dagegen flügellahm von den ausgestreckten Armen, wird „Skepsis oder Unbehagen“ geäußert. Gekreuzte Arme bedeuten „Veto“. Auch für „Du wiederholst Dich“, „Zusatzinformationen“, „in einer Arbeitsgruppe besprechen“, „zum Thema zurückkehren“ und „technischer Einwand“ gibt es Handzeichen. Doch worüber diejenigen reden sollen, die in der „Asamblea“ das Wort ergreifen wollen („eine Hand heben“), bleibt ebenso unklar, wie die Bedeutung von „mike check“ – Mikrofonprüfung, dem Schlagwort, mit dem das Wiederholungsritual beginnen soll. Auch das wiederholt vom Kreis der Umstehenden, von denen der eine oder andere eifrig „my check“ – meine Rechnung – skandiert, als wolle er die Zeche für alle bezahlen.
Die Zaungäste auf dem Platz der Republik registrieren derlei Absonderlichkeiten weitgehend mit Unverständnis. Keiner fühlt sich bemüßigt, mit erhobenen Armen Schüttelfrost zu simulieren oder die Hände baumeln zu lassen wie ein Gummiadler seine Flügel. Eine Aktion, die damit ausgelastet scheint, sich selbst zu reglementieren, wirkt nicht gerade inspirierend.
Und dass am Samstag gleich zu zwei „Asambleas“ auf den Platz der Republik geladen wird – eine um 15, die andere um 17 Uhr – kann diese Bewegung nur zersplittern. Wenn sich immer mal wieder ein paar Dutzend Demonstranten vor dem Reichstag entrüsten, erzeugt das weit weniger Eindruck, als wenn vielleicht einmal pro Woche Hunderte oder gar ein paar Tausend dort den Politikern zeigen, dass es wachsenden Widerstand gibt gegen ihre Politik.
Organisatorisch zeigt die Bewegung noch andere Defizite. Die verständliche Angst davor, von anderen Gruppen für ihre Zwecke eingespannt zu werden, führt dazu, dass sich Occupy geradezu ängstlich vor Kooperationen hütet. Selbst die Aktivisten von Attac, die Mutter der außerparlamentarischen Bewegung unserer Zeit, werden mit Argwohn beäugt. Erfahrungen und Mobilisierungspotentiale solcher Organisationen, von Parteien bis zu Gewerkschaften, von kirchlichen Basisgruppen bis zu anderen sozialen Protestbewegungen bleiben so weitgehend ungenutzt.
Schlimmer noch, die Bewegung zeigt erste Anzeichen der Zersplitterung: Unter dem handbeschriebenen Pappschild „OCCUPY Berlin“ hatten sich auf dem Pariser Platz nämlich nur „die Guten“ versammelt, wie die Schildträgerin betont. „Bei den anderen, die immer vom Roten Rathaus zum Reichstag laufen, marschiert nämlich auch der gewaltbereite schwarze Block mit. Davon wollen wir uns distanzieren.“ Es ist kein Zeichen von Stärke, dass die Bewegung sich von ein paar vermummten Randalierern spalten lässt.
Noch ist die öffentliche Empörung groß, der Widerstand gegen „die da oben“ nicht gebrochen. Basisdemokratisches Palaver allein bleibt jedoch folgenlos. Nur wenn ihm Stimme UND Struktur verliehen werden, kann sich der Protest verstetigen und zum politischen Erfolg führen.
Gelingt es den Occupisten nicht, ihre Botschaft zu fokussieren, die Menschen mit inhaltlichen Angeboten zu begeistern statt durch formalen Firlefanz zu verstören, werden sie die große Sympathie verspielen, die sie in weiten Teilen der Gesellschaft noch genießen. Wenn sie viele Bürger am 12. November, dem nächsten Aktionstag, zum Mitmachen bewegen, den weit verbreiteten öffentlichen Unmut, Frust und Zorn in machtvolle politische Aktionen transformieren wollen, müssen sie Ideen entwickeln und Vorschläge machen, was jene 99 Prozent, denen Occupy eine Plattform bieten will, tun sollen. Es reicht nicht, den Menschen nur vorzubeten, wann, wo und wie sie welche Hand zu schütteln haben.