Der Kontrollverlust über den gesellschaftlichen Diskurs hat unter Journalisten einen Richtungsstreit über die eigene Rolle in der digitalen Ära angestoßen. Soll man künftig Info-Lieferant, neutraler Beobachter oder Erklärer sein? Michael Kraske argumentiert, kritischer Journalismus könne gar nicht umhin, in Debatten Position zu beziehen und fundierte Meinungsangebote zu machen. Doch worüber soll eigentlich diskutiert werden und mit wem? Wie kann Diskurs gelingen, wenn kaum noch einer zuhört?
Von Michael Kraske
Spiegel-Reporter Alexander Osang hat in einer Kolumne die widersprüchlichen Ratschläge aufgelistet, die ihm jetzt angetragen werden: geraten werde ihm zu mehr und zu weniger Meinung. Die Reportage sei tot, sagen die einen, so wichtig wie nie, die anderen. Osang beendet die Kolumne mit einer Anekdote. Erich Böhme habe ihm seinerzeit zur Hochzeit eine kleine Hundefigur geschenkt. Eines Tages habe er, Osang, den Hund aufgeschraubt. In der Hoffnung, eine verborgene Botschaft seines verstorbenen Mentors zu entdecken. Der Autor lässt die Suche nach dem heiligen Gral des Journalismus mit einer Pointe enden: „Der Hund ist im Innern hohl, leer und riecht leicht muffig.“ Was schnoddrig formuliert so viel heißen mag wie: Vergiss die rettende Formel und mach deinen Job.
Wer, wie, was. Die drei Fragewörter aus dem Sesamstraßenlied beschreiben gut das verunsicherte Selbstverständnis nach dem Fall des journalistischen Deutungsmonopols. Mit wem diskutieren und debattieren, wie und worüber – alles völlig offen. „Wer behauptet, er habe die Lösung für das gestörte Verhältnis zwischen Medien und Nutzern, der blufft“, sagt Stephan Weichert, Professor für Journalismus an der Hamburg Media School. Einigkeit herrscht am ehesten in der Feststellung, dass es diesen Kontrollverlust tatsächlich gibt: die sozialen und bisweilen asozialen Medien haben die klassischen als Gatekeeper für Informationen, aber auch für Meinungen und Deutungen abgelöst. Wie darauf inhaltlich und formal zu reagieren ist – darüber gehen die Meinungen weit auseinander.
Feiger Rückzug?
Während etwa Zukunftsforscher Ayad Al-Ani in einem Gastbeitrag für die Zeit den Journalisten der Zukunft als quasiwissenschaftlichen Faktenlieferanten sieht, der vor allem Wissensbausteine für souveräne Entscheidungen von Bürgern zu liefern habe, plädiert Weichert für einen aktiveren Part: „Einen Rückzug der Journalisten auf die ausschließliche Rolle als Berichterstatter hielte ich für feige, denn es gehört auch zu den Aufgaben des Journalismus, Debatten zu moderieren und abzubilden.“ Künftig würden Medien sogar verstärkt in den Meinungsstreit hineingezogen. „Ihre Aufgabe wird darin bestehen, auf Basis von Rechercheergebnissen Argumente zu prüfen und kritisch zu hinterfragen.“
Spiegel-Autor Ullrich Fichtner hat die vielfach beschworene Vertrauenskrise des Journalismus in einen weltgeschichtlichen Zusammenhang gestellt. Das ist wichtig, weil bei isolierter Betrachtung die Gefahr besteht, dass sich kritischer Journalismus in blindem Aktionismus einem allzu medienkritischen Zeitgeist anbiedert. Im Essay „Die große Erosion“ deutet Fichtner die Medienkrise als Teil einer weltweiten Demokratiekrise. Nicht, um journalistische Versäumnisse zu leugnen, die er im Gegenteil benennt. So hätten die Redaktionen berechtigte Sorgen in der Bevölkerung tatsächlich allzu lange als irrelevant abgetan. Davon unterscheidet Fichtner aber das, was er die „völlig unberechtigten Sorgen der Bürger“ nennt. Die sich in Verschwörungstheorien äußerten und von Populisten erfolgreich angestachelt würden.
Es geht um Regelverstöße
Zum Grundauftrag einer freien Presse gehöre es, Missstände aufzuzeigen und durch Kritik die Lebensverhältnisse zu verbessern, so Fichtner. Skandale aufdecken. Die Mächtigen kontrollieren. So weit, so bekannt. Aber Fichtner belässt es nicht bei diesem klassischen Rollenverständnis: „Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben, unaufgeklärtes Denken auszustellen und zu bekämpfen. Journalismus ist immer auch ein Geschäft der ideologischen Mülltrennung.“ Beim Vorwurf der „Lügenpresse“ gehe es nämlich gar nicht um Wahrheit oder Lüge: „Tatsächlich sollen Redaktionen durch populistischen Druck und Drohgebärden dazu gezwungen werden, den ideologisch aufgeladenen Themen von Rassisten, rechten Ideologen, Pegida-Rednern, intellektuellen Neurechten und sonstigen Verschwörungstheoretikern Raum zu geben.“ Diesen Akteuren geht es darum zu erkämpfen, was Antonio Gramsci die „kulturelle Hegemonie“ nannte. Die vorherrschende politische Meinung, die von ihnen als linkslastig angeprangert wird. Der Journalismus darf sich dafür nicht instrumentalisieren zu lassen. Vielmehr hat er für die liberale Demokratie einzutreten. Nicht nur, aber auch, weil die seine Existenzgrundlage ist, wie die Repressionen unter Putin, Orban und Erdogan zeigen. In Demokraturen gibt es keine freie Presse.
Was Fichtner als journalistisches Ethos ausgibt, ist unter Kollegen gleichwohl heftig umstritten: ein Selbstverständnis, wonach Qualitätsjournalismus explizit auch Werturteile treffen darf, orientiert an Menschenrechten, Gesetzen, demokratischen und gesellschaftlichen Spielregeln. „Haltungsjournalist“ nennt das der ehemalige Bild-Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje verächtlich und Claus Kleber als Negativ-Beispiel. Doch kritischer Journalismus funktioniert gar nicht ohne einen Bewertungsmaßstab. Egal, ob Korruption oder Betrug bei der Doktorarbeit: Gegenstand journalistischer Kritik und Skandalisierung sind stets Normenverstöße – gegen Gesetze, aber auch gegen gesellschaftliche Übereinkünfte. Je stärker der Regelverstoß oder je wichtiger das verletzte Rechtsgut, desto stärker die journalistische Kritik und desto notwendiger journalistische Haltung.
Am Beispiel von Tiedjes Medienkritik an der deutschen Berichterstattung über Donald Trump wird deutlich, wie sehr dieser Standard derzeit ins Wanken gerät. Im Interview mit dem Medien-Portal meedia.de macht Tiedje persönliche Vorlieben mehrheitlich linker Journalisten für die vermeintlich einseitige und unfaire Berichterstattung verantwortlich. „Der wertfreie Journalismus kam unter die Räder“ so Tiedje. Auch nach der Wahl Trumps habe sich daran nichts geändert: „Was immer er sagt, was immer er tut – den deutschen Fernsehwelterklärern ist es nie recht.“
Drohen, beleidigen, missachten
Abgesehen davon, dass erstaunlich ist, wenn ein Ex-Chef der Bild-Zeitung, die Schlagzeilen seit jeher gern populistisch wählt, eine quasineutrale Haltung fordert, verkennt Tiedje, dass Kritik an Trump nicht Ausdruck der „Wünsche und Träume“ linker Journalisten ist, wie er suggeriert, sondern ureigensten Bewertungskriterien der Branche entspricht. Trump wurde kritisiert, weil er Frauen beleidigt, einen behinderten Reporter nachgeäfft und Minderheiten herabgewürdigt hat; weil er rassistische Einreiseregelungen angekündigt hat; weil sein Verhalten viele Züge einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägtem Freund-Feind-Denken trägt; weil er nicht zwischen Familie und Amt trennt wie in Demokratien üblich; weil er drohte, Konkurrentin Hillary Clinton zu inhaftieren und das Ergebnis der Wahl missachten zu wollen. Normverletzungen, Regelverstöße gegen elementare Grundregeln. Journalistisches Kerngeschäft. Das war, bevor Trump das Amt überhaupt antrat. Bevor er dann als Präsident per Dekret ein rassistisches Einreiseverbot erließ, mit seinen Ausfällen gegen Richter die demokratische Gewaltenteilung angriff und die freie Presse zum Feind des amerikanischen Volkes erklärte.
Vorbild für Rechtspopulisten
An harter Sachkritik kommen Journalisten schon deshalb nicht vorbei, weil Trump mit seiner permanenten Verdrehung der Tatsachen die Grundlagen des demokratischen Diskurses bedroht. „Trump erzeugt seine eigene Wirklichkeit und unterstellt denen, die ihn der Lüge überführen, dass sie Lügner seien“, so Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer in einem Leitartikel. Wie bei seiner ersten Pressekonferenz, als Trump einem CNN-Reporter zurief: „You are fake news“. Fragen? Nicht gestattet.
Mit dieser Strategie ist Trump Vorbild für andere Populisten. Die AfD verweigerte zuletzt Journalisten und öffentlich-rechtlichen Sendern die Akkreditierung für einen Kongress europäischer Rechtspopulisten in Koblenz. Die ARD protestierte und hielt dennoch ihre Einladung an AfD-Chefin Frauke Petry in den Talk „Hart aber fair“ aufrecht. Eigentlich sollte gelten: Wer am medialen Diskurs teilnehmen möchte, muss selbst grundlegende Spielregeln einhalten. Die ARD aber lässt der AfD den Verstoß gegen Mindeststandards demokratischer Öffentlichkeit durchgehen. Das Motiv liegt auf der Hand. Man fürchtet den Aufschrei der wachsenden AfD-Anhängerschaft. Doch aus Umfragewerten ergibt sich keine öffentlich-rechtliche Präsenzpflicht. Wer sich freier Berichterstattung entzieht, hat umgekehrt keinen Anspruch auf die öffentlich-rechtliche Diskurs-Bühne. Zumal die interne Medienstrategie der AfD laut Tagesspiegel auf „geplante Provokationen“ und eine „Eskalation der Konflikte“ setzt. Wie die Brandrede von Björn Höcke in Dresden zeigt, in der er nicht nur das bundesdeutsche Gedenken an den Holocaust verächtlich gemacht hat, sondern indirekt auch das demokratische System in Frage gestellt hat.
„Vorauseilender Gehorsam, um wütende AfD-Anhänger zu beschwichtigen, ist kein guter Grund, AfD-Politiker in den Medien stattfinden zu lassen“, sagt Medienforscher Weichert. Wahlerfolge für Rechtspopulisten erzeugen gleichwohl Anpassungsdruck auf die Medien: Themen und Personal der Populisten werden stärker berücksichtigt. Doch so wenig man sich als Journalist mit einer guten Sache gemein machen darf, um das überstrapazierte Wort von Hajo Friedrichs zu bemühen, so wenig darf man sich mit kritikwürdigem Verhalten gemein machen, nur weil das gerade populär ist. Rassismus und die Missachtung demokratischer Spielregeln werden durch wachsende Umfragewerte nicht akzeptabel.
Rationales Korrektiv
Die journalistischen Medien müssen im postfaktischen Chaos nicht nur der Ort für faktenbasierten, rationalen Diskurs sein, sondern auch Korrektiv für allzu grobe Vereinfachungen. Stefan Niggemaier hat im Zuge der Debatte um die Polizei-Kontrollen in der Kölner Silvesternacht kritisiert, mit welchen inhaltlichen Unschärfen Redakteure bisweilen Zustimmung für den Polizeieinsatz transportierten. Da wurden junge männliche Migranten in Bahnhofsnähe einfach mit jenen Tätern gleichgesetzt, die im vergangenen Jahr die sexuellen Übergriffe begingen. Die Bild-Zeitung befand über den Polizeieinsatz: „Alles richtig gemacht.“ Ende der Diskussion. Nur wenige thematisierten ausdrücklich das rechtstaatliche Dilemma des im Ergebnis erfolgreichen Einsatzes: Darf der Staat diskriminierende Maßnahmen anwenden, um das kostbare Gut der Sicherheit zu gewährleisten und wenn ja, unter welchen Bedingungen und in welchen Grenzen?
Einen solchen analytischen Mehrwert zu liefern könnte wichtigstes Alleinstellungsmerkmal in den schnellen und digital aufgeheizten Debatten werden. Wie das gehen kann, zeigt Afrika-Korrespondent Bartholomäus Grill im Spiegel-Essay „Der K-Kontinent“. Da untersucht der Autor, ob es möglich ist, „Fluchtursachen vor Ort zu bekämpfen“, wie Politiker fordern. Auf Grundlage langjähriger Recherchen kommt Grill zum Ergebnis, dass die Vorstellung unrealistisch ist, Menschen dadurch kurzfristig von der Flucht nach Europa abhalten zu können. Meinung, die sich auf Expertise und exklusive Rechercheergebnisse stützen kann, findet auch im rauschenden Meinungsstrom Beachtung.
Ungenutztes Potenzial
Auffällig ist, wie wenig Diskursraum die journalistischen Medien für hintergründige Analysen und gesellschaftliche Debatten geschaffen haben, obwohl sich die Sendeplätze durch das Internet vervielfacht haben. Die langjährige Einschätzung großer Marken, im Netz bestünde primär Interesse an weiblichen Rundungen und dem Beziehungsmüll irgendeines Pietro und seiner Ex-Sarah wird täglich von Tausenden Bloggern und Facebook-Kommentatoren widerlegt. Zwar toben sich in den Kommentar-Spalten vieler Nachrichtenportale vor allem die Lauten und Aggressiven aus, aber die Bereitschaft, überhaupt zu diskutieren, ist ungenutztes Potenzial. Der Nutzer interessiert sich, nur wird daraus bislang zu selten konstruktiver Dialog.
„Eine wichtige Erkenntnis aus der Trump-Wahl liegt für Journalisten darin, dass sie sich in vermeintliche Niederungen der sozialen Medien herablassen und grundsätzliche, auch unangenehme Fragen stellen müssen“, sagt Medienforscher Weichert. „Die eigene Vorstellung von der Welt und die Themensetzung von Journalisten sind möglicherweise viel weniger relevant als bisher angenommen.“ Doch oft wird in digitalen Dialogforen, etwa bei der Leipziger Volkszeitung, derart massiv gedroht und beschimpft, dass die Administratoren das Forum aufgrund strafrechtlich relevanter Posts schließen müssen.
Wohl auch deshalb hat der Tagesspiegel sein Debattenportal Causa nicht zum Mitdiskutieren geöffnet, sondern als exklusiven Debattierclub konzipiert. Ausgewählte Experten debattieren dort über Integration oder Terror. Wer sich als Nutzer anmeldet, kann Relevanz und Inhalt bewerten. Noch wirkt das Portal unfertig, die Einbindung der Leser provisorisch. Doch finden sich auf Causa schon jetzt unverbrauchte Experten, unterbelichtete Themen und streitbare Thesen. Causa ist dennoch eher digitales Nischenformat. Medienforscher Weichert kritisiert, vor allem junge Erwachsene würden derzeit vom Journalismus kaum noch erreicht. Zudem verstärkten gut laufende Formate wie die SPON-Kolumnen von Jakob Augstein und Jan Fleischauer eher noch die gesellschaftliche Polarisierung als zu einer Versachlichung beizutragen.
Kerniger Seitenhieb, kleiner Tabubruch
Während im Netz aber wenigstens ansatzweise mit Formen und Inhalten experimentiert wird, ist der Diskurs im TV in einer Sackgasse. „Das Format der politischen Talkshow hat sich längst totgelaufen, weil es weder Unterhaltung noch wichtige Informationen bietet“, sagt Weichert. „Man weiß oft gar nicht, ob man gerade bei Plasberg oder Maischberger reinzappt, weil sich Personal, Themen und Abläufe in einer ständigen Wiederholungsschleife befinden.“ Kardinalfehler des Polit-Talks sei es, die starke Emotionalisierung des Internets nachzuahmen: „Die Sender versuchen offenbar, dem eigenen Bedeutungsverlust entgegenzuwirken, indem sie größtmögliche Provokation erzeugen wollen.“
Oftmals mit den immer gleichen Provokateuren. Einer davon ist Polizei-Gewerkschafter Rainer Wendt. Bundesrichter Thomas Fischer stellt den Talkshow-Dauergast in seiner Zeit-Kolumne in Frage. In dessen Sachbuch „Deutschland in Gefahr“ habe Wendt für Parlamentarier und Strafrichter nur Verachtung und Häme übrig. „Das Buch von Rainer Wendt verstärkt Ängste und Vorurteile“, stellt Fischer fest. Wendt beschimpfe Regierung, Parlament und Justiz jenes Staates, den er zu repräsentieren behaupte. Genau das macht ihn für Talkshow-Redakteure interessant. Wendt pöbelt, vereinfacht, teilt aus und greift an. Für einen kernigen Seitenhieb oder einen kleinen Tabubruch ist der Lobbyist immer zu haben, wie kürzlich wieder bei „Hart aber fair“ zu sehen war. Kalkulierte Tabubrüche sind hierzulande spätestens seit Botho Strauß´ legendärem Spiegel-Essay „Anschwellender Bocksgesang“ aus dem Jahr 1993 ein Erfolgsrezept für mediale Debatten. Strauß hatte seinerzeit Rassismus als „gefallene Kultleidenschaft“ bezeichnet, die ursprünglich einen ordnungsstiftenden Sinn gehabt habe.
Auch der Erfolg von Thilo Sarrazin, dessen Buchthesen über das vermeintlich vom Aussterben bedrohte deutsche Volk vorab auszugsweise von Bild und Spiegel publiziert wurden, folgte diesem Muster. Sarrazin durfte seinen Wiederbelebungsversuch der unheilvollen Eugenik in jedem relevanten TV-Polittalk einem Millionenpublikum vorstellen und wird gleichwohl bis heute als Opfer einer political correctness stilisiert, die geistige Abweichler wie ihn angeblich mit Denk- und Sprachverboten belege. Wobei stets offen bleibt, wer genau eigentlich welche Verbote verhängt und wie diese denn durchgesetzt werden. Medienforscher Norbert Bolz versteigt sich auf Causa gar zu der Aussage, politisch Unkorrekten werde „am Medienpranger“ von „neuen Jakobinern“ der „Schauprozess“ gemacht. Die Gesellschaft werde „Opfer eines politisch motivierten Tugendterrors“. Sind „Jakobiner“ und „Terror“ wirklich zutreffende Bezeichnungen für unliebsame Argumente? Wo sind die Henker, wo die Geköpften?
Kaum etwas schadet der Debattenkultur derzeit so sehr wie das Gerede vom „PC-Tugendterror“. Weil es allen, die mit unterschiedlichsten Argumenten liberale Standpunkte vertreten, vorschreiben will, wie zu argumentieren sei. Philosoph Daniel-Pascal Zorn hat in der Zeit darauf hingewiesen, dass PC-Kritiker damit genau dasselbe tun, was sie vermeintlichen Vertretern politischer Korrektheit vorwerfen. Diejenigen, die für Menschenrechte eintreten, müssen vielmehr aushalten, dass nicht jeder Autor ihr Weltbild teilt. Umgekehrt muss mit harter Kritik rechnen, wer etwa das Gedenken an die Opfer des Holocaust in Frage stellt.
Nicht jede Streitfrage ist eine moralische, aber nicht jeder, der wertbezogen argumentiert, ist ein diskursfeindlicher Moralist. Wenn Bolz behauptet, wir lebten in „spiritueller Knechtschaft“, verkennt er, dass innerhalb unserer breiten diskursiven Meinungsspanne abweichende Stimmen seit Jahren die größte Aufmerksamkeit finden, wie die Kontroversen um Strauß, Handke, Walser und Sarrazin belegen. Harte Sachkritik bedeutet nicht, Abweichler mundtot zu machen, sondern drückt notwendiges Bemühen aus, sich über minimale Grundwerte zu verständigen, ohne die eine demokratische Gesellschaft gar nicht existieren kann. Und natürlich geht es dabei um ethische Fragen, was denn sonst?
Zeigt Lösungen!
Das Versäumnis der Medien besteht nicht darin, Provokateure, Zuspitzer und Tabubrecher ignoriert zu haben, sondern kluge Vordenker und wegweisende gesellschaftliche Debatten. In der derzeitigen Sinnkrise hält Medienwissenschaftler Weichert „Constructive Journalism“ für einen vielversprechenden Ansatz: „Also lösungsorientierter zu berichten, anstatt nur Fehlentwicklungen und Skandale aufzuzeigen. Die journalistische Beschreibung konstruktiver Vorschläge zur Lösung gesellschaftlicher Probleme wird vom Publikum sehr geschätzt.“ Navid Kermani etwa, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, schreibt in seinen Büchern hintergründig und kenntnisreich über den Islam, Muslime und wenig bekannte Schnittmengen der Kulturen. Ein wortmächtiger Ausnahme-Intellektueller, der auf Lesereisen Theater füllt, im Feuilleton oder TV aber eher sporadisch zu Gast ist. Mehr Kermani und weniger Wendt würden der Debattenkultur guttun.
Mediale Debatten folgen einem konjunkturellen Zyklus, der stets der Nachrichtenlage folgt. Diskutiert wird für einige Wochen, was ansteht. Derzeit Terror und Innere Sicherheit. Nicht immer gelingt es den Medien gut, die Aktualität zu relevanten Debatten zu verdichten. Sowohl das Fußball-Sommermärchen 2006 als auch der WM-Titel in Brasilien boten die Chance, die große deutsche Debatte über eine moderne Identität zu führen. Aufgehängt an einer Nationalmannschaft, in der nicht mehr nur Karl-Heinz oder Lothar spielen, sondern auch Mesut, Jerome oder Shkodran. Wer soll das „Wir“ sein, wenn dieses nicht mehr auf Herkunft beruht? Was schafft Verbindung, Identität, Loyalität? Fragen, die kaum diskutiert wurden. Stattdessen wurde in den Feuilletons leidenschaftlich darüber gestritten, ob es okay oder nationalistisch ist, ein Deutschland-Fähnchen in den Fahrtwind zu hängen und ob Nationalspieler mit Migrationshintergrund die Nationalhymne mitsingen müssen. Heute ist der Streit über das „Wir“ auch deshalb eine so aggressive Kampfzone, weil die öffentliche Diskussion darüber zu lange versäumt wurde.
Raushalten geht nicht
Die Liste kleiner Stellschrauben zur Verbesserung des medialen Diskurses ist also lang: gesellschaftliche Relevanz der Themen, Sachlichkeit und Differenzierung in der Argumentation, Verzicht auf Polemik, bessere Auswahl des Personals und Suche nach geeigneten Formaten. Probleme und Lösungen werden nach wie vor in der Reportage anschaulich, wenn sie nicht von Edelfedern als Fetisch um des Erzählenwillens behandelt wird. Entwicklungen lassen sich in Interviews, Essays oder Erfahrungsberichten spiegeln. Kritischer Journalismus braucht sich nicht zu scheuen, Haltung zu zeigen, weil Meinungsbeiträge immer nur Angebote sind. Für die neue Lust am Mitdiskutieren braucht es ganz neue Internet-Formate.
Der politische Richtungsstreit wird sich eher noch verschärfen. Raushalten geht nicht. Journalisten wird dabei ein permanenter Rollenwechsel abverlangt: Faktenlieferant, Beschreiber, Moderator, Analyst, Kommentator. Faktenorientierung sei der richtige Weg für journalistische Qualitätsmarken, um sich von ungeprüfter Meinungsmache abzuheben, so Medienforscher Weichert. Bei allem Bemühen um Professionalität, Transparenz, Relevanz, größere Reichweite und Innovation – wo Diskurs ist, wird immer auch Kritik und Ablehnung sein. Für den Journalismus geht es nicht darum, exklusive Deutungshoheit zurück zu gewinnen, sondern um das bestmögliche Angebot für die größtmögliche Zahl. Positiv sei, dass der Journalismus beginne, Selbstkritik zu üben, sagt Weichert: „Andererseits vermisse ich mitunter die Souveränität, selbstbewusst für die eigene, seriöse journalistische Arbeit einzutreten.“
Der Essay wurde im Magazin journalist veröffentlicht und erscheint online in einer aktualisierten Version.