Von Marion Kraske
Etwas läuft falsch in diesem Land. Da kam jüngst der himmelschreiendste Skandal der letzten Jahre ans Licht und die breite Masse der Deutschen scheint es nicht die Bohne zu interessieren. Dass die amerikanischen Geheimdienste in Europa, ja auch in Deutschland, krakenhaft und millionenfach Daten absaugen, E-Mail-Kontakte scannen, Telefone abhören, Facebook-Aktivitäten ausspionieren, grenzenlos und ungehindert, dass unser aller Privatsphäre, die im Grundgesetz verbrieft ist, missachtet und torpediert wird – es wird einfach so hingenommen.
Eine Titelstory im Nachrichtenmagazin Der Spiegel, das die Thematik in ihrer ganzen Komplexität offenbar noch nicht ganz erfasste, dazu ein paar kritische Kommentare in den Zeitungen, ein paar Diskussionen in den diversen Talkshows und poff – ist der Supermegagau im Bewusstsein der Bevölkerung schon wieder verflogen, ganz so, als wäre nichts, aber auch nichts Relevantes passiert. Stattdessen diskutiert man sich – allen Ernstes – die Köpfe heiß über Sinn und Unsinn eines VeggieDays. Es ist ein unfassbares Versagen der deutschen Öffentlichkeit, das derzeit zu beobachten ist.
Noch besser: Kanzlerin Angela Merkel und ihre Koalition verfügen erstmals seit 2009 wieder über eine eigene Mehrheit. War da was? Skandale, Rücktritte, Pleiten, Pech und Pannen der vermeintlich „erfolgreichsten Regierung seit der Wiedervereinigung“ (O-Ton Merkel)? Die reine Akklamation des eigenen Erfolgs scheint beim Wahlvolk indes zu fruchten. Oder wie die Satireseite Der Postillion konstatiert: Trotz zahlreicher Skandale und weitgehender Untätigkeit kann die Regierung hohe Beliebtheitswerte erzielen: „Offenbar ist die CDU-Politikerin vor allem deshalb so beliebt, weil sie so beliebt ist.“
Inmitten der NSA-Enthüllungen und der butterweichen Reaktion unserer Regierungschefin mutet das scheinbar grenzenlose Vertrauen der Deutschen in ihre Angela wie ein schlechter Scherz an. Und doch zeigt dieser reale Witz, wie verkommen die politische Kultur hierzulande ist. Hatte Merkel nach Auffliegen der Geheimdienstaktivitäten doch den vermutlich entlarvendsten Satz gesagt, den ein Politiker überhaupt sagen kann: „Es ist nicht meine Aufgabe, mich in die Details von Prism einzuarbeiten.“ In einem Unternehmen wäre das ein klarer Kündigungsgrund. Arbeitsverweigerung. Wahrnehmungsstörung. Schluss – Ende – AUS.
In der Politik wird er einfach so hingenommen. Ein Satz, so vermeintlich harmlos und zurückgenommen wie der blasstürkisfarbene Blazer, den Merkel auf der Pressekonferenz an jenem Tag trug. Und doch ist Merkels Aussage mehr: Er ist eine Ohrfeige für alle, die noch ein Fünkchen Interesse daran haben, wie dieses Land regiert wird. Denn dieser Satz kommt einem Offenbarungseid gleich: Wo Aktion und Reaktion gefordert wären (Politik ist Gestaltung, nicht ihre Negation), setzt Merkel einmal mehr aufs Nichtstun. Wenn Prism, wie es den Anschein hat, massenhaft die Grundrechte von uns allen verletzt, wäre es Merkels verdammte Pflicht, sich mit den Details der Spähattacke auseinanderzusetzen. Merkel ist als Repräsentantin des Wahlvolkes im Amt, um dessen – also unsere – Interessen wahrzunehmen und zu schützen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Interessen einfach zu negieren, sich für nicht zuständig zu erklären, weil man sich nicht in die Niederungen eines technischen Prinzips einarbeiten will – es entlarvt Merkel als im Grunde unpolitisches Wesen.
Und die breite Öffentlichkeit? Lässt sich einlullen von dieser nicht enden wollenden Woge politischen Desinteresses. Statt in der Gunst des Wahlvolkes ins Bodenlose zu fallen, wird Angela Merkel gehypt und geliebt.
Es mag sein, dass Politik nicht jedem liegt, dass es einigen egal ist, dass in diesem Land jedes zehnte Kind in Armut aufwächst, dass die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter aufklafft. Dass wir im Bildungsbereich international hinterher hinken, dass Milliarden und Abermilliarden in lächerlich vermurksten Großprojekten versenkt werden, aber für Kitas und Pflegeplätze kein Geld da ist, dass Frauen im Arbeitsleben weiterhin benachteiligt und unterrepräsentiert sind, dass vielerorts eine rechtsextreme Alltagskultur die Deutungshoheit erobert und Menschen mit anderen Lebensformen oder fremden Wurzeln immer wieder aufs Neue zu Opfern von Rassismus und roher Gewalt werden. All diese Fehlentwicklungen und Defizite sind für viele weit, weit weg.
Doch in der Spähaffäre geht es um mehr. Es geht um UNS. Es geht um unser Land und die Frage, in welcher Verfasstheit es sich befindet. Es geht um die Frage, was die
„freiheitlich demokratische Grundordnung“, das Fundament unseres Landes, noch wert ist, wenn es auf dem Altar der Gleichgültigkeit und des Nichtstuns geopfert wird. Es geht um die Frage, ob wir eine politische Klasse haben, die bereit ist, nicht nur ihre Macht, sondern eben diese Grundrechte bedingungslos zu verteidigen. Notfalls auch gegen ein starkes Amerika und seine paranoiden Geheimdienst-Trupps. Die NEIN sagen und nicht alles mitmachen, was der große Bruder fordert und anmahnt.
Die bittere Antwort muss wohl lauten: Nein. Die Dringlichkeit des Handelns, der kaum zu leugnende Imperativ, der sich aus den Enthüllungen Edward Snowdens ergibt, erschließt sich weder unserer Regierungschefin noch ihrem lächerlich agierenden Innenminister. Und auch die Opposition sieht die Causa augenscheinlich lediglich als willkommenes Intermezzo im gerade laufenden Wahlkampf.
Da passt es ins Bild, dass sich nun CDU und SPD wechselseitig Versagen, Verleumdung und Heuchelei vorwerfen, dass der Schwarze Peter hin und hergeschoben wird, nicht aber mehr die Spähattacke samt ihrer Folgen für die deutsche Bevölkerung diskutiert werden. Hier manifestiert sich das Versagen der Politik ein weiteres Mal: Statt zu erörtern, wie der Spähangriff auf uns alle sanktioniert und künftig rigoros unterbunden werden kann, rücken die lieben Politiker die Interessen ihrer Parteien in den Vordergrund der Debatte. Der eigentliche himmelschreiende Charakter des Skandals, die Ausspähung von uns allen, wird auf diese Weise durch parteitaktisches Geplänkel verkleistert.
Da stellt sich mir die Frage, was das Land und im Besonderen unsere Politiker gelernt haben aus der deutschen Geschichte. Wie wertvoll ist ihnen die Freiheit des Einzelnen (und seine geschützte Privatsphäre) tatsächlich? Wird der Wert des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung von den Verantwortlichen überhaupt in seiner Bedeutung für das politische System verstanden? Zur Erinnerung: Es ist noch gar nicht so lange her, da galt der Schutz des Individuums und der Privatsphäre nichts mehr, eine dumpfe Masse setzte das vermeintliche Mehrheitsinteresse über die Menschenwürde und die Rechte des Einzelnen. Diese Zeit zählt zu den unseligsten in unserer Geschichte. Schon vergessen?
Wenn unsere politische Klasse diese Zeit samt der daraus zu ziehenden Lehren nicht verinnerlicht hat, sollten wir sie ihnen ins Bewusstsein rufen. Die Grundrechte jedes Einzelnen sind die Basis unserer Demokratie. Sie zu opfern (etwa für eine allumfassende Sicherheit) kommt einem Angriff auf die Grundfeste unserer Gesellschaft gleich.
An dieser Stelle möchte ich an den verstorbenen Stéphane Hessel erinnern, jenen französischen Holocaustüberlebenden, der in seiner eindringlichen Streitschrift „Empört euch“ im Oktober 2010 gegen die Allmacht der Banken und die Unterdrückung von Minderheiten aufbegehrte. In wenigen und doch berührenden Worten erinnerte Hessel daran, dass „das Grundmotiv der Résistance die Empörung war“. E-M-P-Ö-R-U-N-G.
Empörung ist das, was der deutschen Öffentlichkeit und der deutschen Politik derzeit am meisten fehlt. Sie ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit. Sie ist das Gegenteil des Merkelschen Mantras vom Nichtstun. Empörung ist das, was wir brauchen, um den politischen Sittenverfall nicht weiter voranschreiten zu lassen. Oder, um Hessel zu zitieren: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“
Eben darum geht es. Es ist noch nicht zu spät. Lasst uns aufbegehren. Jetzt.
Hier gibt es Hessels Streitschrift “Empört Euch!” als Audioversion.