Von Sebastien Martineau
Die Wahlergebnisse in Frankreich sind eine Überraschung. Ach ja? Sagt wer? Wer ist der Experte, der seit Sonntag die deutschen Medien inspiriert? Kurz nach der Wahl basierten die Kommentare immer noch auf Ziffern und Umfragen. Und Angst. Und sehr wenig auf einem echten Verstand vom französischen Wahlsystem und von der politischen Dynamik dort. Ein paar wesentliche Punkte sollte man erklären.
FN und Syriza gleichsetzen?!
Was für eine kluge Idee von der Süddeutschen Zeitung am Montag! Oh ja. All diejenigen, die die Sparpolitik in Frage stellen – in eine Schublade! Also Syriza gleich Front National (kurz FN) gleich Podemos. Und da der FN böse ist, ist Syriza auch unbedingt böse. Und dumm. Könnte man vielleicht eine Sekunde ernsthaft in Kauf nehmen, dass auch der FN manchmal richtige Fragen stellt?
Es gibt tatsächlich eine große Anzahl an Menschen in Europa, die die Sparpolitik in Frage stellen, und das auch in Deutschland. Dass viele Journalisten aus intellektueller Faulheit „Reform“ in ein Synonym von Sparpolitik verwandelt haben, heißt nicht, dass die Leute die Konsequenzen der Sparpolitik in ihrem Alltag nicht erleben.
Dass die Regierungsparteien diese Sorge bislang nicht sinnvoll angesprochen haben, heißt nicht, dass alle Parteien, die es machen, wahnsinnig sind. Manche sind es tatsächlich. Und der FN ist ein Paradebeispiel.
Die erste Partei Frankreichs
Es ist seit langem in Frankreich üblich, dass die regierende Partei nach ein paar Jahren in allen möglichen Lokal- oder Nationalwahlen sanktioniert wird. Egal ob erfolgreich oder nicht. Regieren die Sozialisten, dann wählen die Franzosen die UMP. Oder umgekehrt. In meinen 17 frustrierenden Jahren als Wähler habe ich das mehrmals ratlos beobachtet. Als würden die Leute die Wahlprogramme gar nicht lesen. Inzwischen ist der Front National eine „neue“ Komponente von dieser Dynamik, aber er löst sie nicht aus. Er kommt lediglich dazu. Ganz viele Wähler sehen immer noch den FN als das, was er ist: eine ausländerfeindliche Partei, und eine Gefahr für die Demokratie. Diese Wähler spielen also ihr Sanktion-Spiel weiter.
Weil Marine Le Pen auf ihre Plakate schreibt, dass der Front National die erste Partei Frankreichs ist, heißt es noch lange nicht, dass es auch stimmt. Es ist ein Kernmerkmal von ihrer Strategie – von ihrem „Storytelling“ – sich immer als Siegerin darzustellen.
Charlies Frankreich
Was war das bedeutendste politische Ereignis in der letzten Zeit in Frankreich? Etwas was in diesen Kommentaren der letzten Tage gar nicht erscheint: Die Massendemonstrationen für die Pressefreiheit und gegen den Terror nach den Anschlägen in Paris. Ein Frankreich hungrig nach Karikaturen und Weltoffenheit. Wie passt das ins Bild?
Wie in jedem Land gibt es in Frankreich fast so viele Wahlverhalten wie es Wähler gibt. Es gibt ein Frankreich gegen die Homoehe und eins dafür. Ein Frankreich gegen die Atomkraft, und eins, das sich keine großen Gedanken darüber macht.
Es gibt ein Frankreich, das überzeugt ist, dass die Muslime – oder die Politiker, die Journalisten, die Juden, die Freiaurer, die Linkshändler, die Banker, die CIA, die Russen – für alles verantwortlich sind. Ein Frankreich, das genau weiß, wie schön es ist, in einem der reichsten Länder der Welt zu leben. Trotz ewigem Gelaber über eine Krise, die uns schon seit den 70er Jahren verkauft wird.
Sieg von Sarkozy
François Hollande ist inzwischen so umstritten (ist fast eine Masche, ist cool geworden, Hollande zu hassen), dass ein starker Sieg der UMP vorhersehbar war. Egal ob mit Sarkozy oder Juppé an der Spitze. In diesem Sinne, ist das Ergebnis relativ schwach für die Konservativen. Und es ist kein Wunder. Die Partei Sarkozys hat nach der Präsidentschaftswahl 2012 eine große Krise erlebt, mit zwei unversöhnbaren Spitzen und einer enormen Wahlkampfrechnung. Die UMP ist weiterhin gespalten. Zwischen einer Juppé-Tendenz, die sich klar vom Front National distanzieren möchte und der Sarkozy-Linie, die die Themen der Rechten übernimmt.
Nicolas Sarkozy ist weiterhin in mindestens sieben Justizverfahren verwickelt. Wenn respektable Medien ihn als „Sieger“ des Tages bezeichnen, klingt das, als wäre er ein ganz normaler Politiker. Ist er aber nicht. Oder Silvio Berlusconi war ein ganz normaler Politiker.
Ein Risiko für den Front National
Um die Ergebnisse von Sonntag zu analysieren, muss man sich erstmal daran erinnern, dass es sich hier um eine Bezirkswahl handelt. Wie die meisten Wahltermine in Frankreich, basiert diese Wahl auf einem Sieg im einzelnen Bezirk. Und nicht auf einer Anzahl an Stimmen, die dann in so viele Abgeordnete auf einer Landesliste verwandelt wird.
Es ist nicht das Gleiche, für Marine Le Pen bei der Europawahl zu stimmen oder für einen lokalen Vertreter des FN im Bezirk zu wählen. Der FN hat es zwar in mehr als 90 Prozent der Bezirke geschafft (in meinem Bezirk gab es ja nicht mal ein Kandidaten-Duo der Sozialisten oder der Grünen…), aber hat dafür seine eigene Legitimationsstrategie gefährdet.
Während der PS und die UMP seit langem ein breites Netzwerk an lokalen Kräften haben, musste sich der Front National ein Neues bauen. Und hat nicht so genau hingeguckt, wer diese Kandidaten sind. Während des Wahlkampfes sind regelmäßig Informationen über Kandidaten an die Öffentlichkeit gelangt, die einen gewissen Führer aus Österreich bewundern. Oder die Ausländer mit Tieren vergleichen. So was ist jetzt „no-go“ beim Front National. Es ist aber tief in der DNA von der Partei verankert.
Wen wählen?
Was die Kommentatoren nicht sagen ist, dass die Franzosen sich als Wähler nicht ernst genommen fühlen. Ich auf jeden Fall nicht. In unserem Wahlsystem gibt es einen klaren Vorteil für die Regierungsparteien. Und diese Vorteilsposition wurde lange gerechtfertigt, nach dem Motto: wenn wir auf Basis der Landesliste wählen, dann kommt der FN ins Parlament!
Was hat das bewirkt? Der FN hat das in eine sehr effiziente Waffe verwandelt. Seine beste Waffe. „Wir sind Opfer von einer Verschwörung“, sagen die Anhänger von Le Pen. Klingt plausibel, wenn man mit 20 bis 30 % der Stimmen trotzdem keinen Platz im Parlament bekommt.
Jetzt ist die Lage so: Der FN ist stark genug, um die Vorteilsposition der zwei Großen wackeln zu lassen. Und trotzdem glauben der PS und die UMP weiterhin, sie haben ein Recht, allein da zu sein. Ohne je fähig zu sein, die gesellschaftlichen Prozesse zu erklären, die Krise, die Arbeitslosigkeit, die Einwanderung… Inzwischen machen große, professionelle Maschinen Wahlkampf. Aber Ideen? Neue Gesichter? In Frankreich wählt man inzwischen nicht mehr für, sondern dagegen. Gegen Hollande, gegen die Sozialisten, gegen Sarkozy… Weil die Politiker die Welt nicht mehr erklären können, vergessen wir, wie schön es ist, in einer (nicht perfekten) Demokratie zu leben.
Sebastien Martineau ist als freier Journalist und Mediatrainer für die Deutsche Welle tätig. Er lebt und arbeitet in Hamburg.