Europa. Grenzenlos!

Von Marion Kraske

Politblog debattiersalon | Baumarkt-Plakat in Kroatien: "Zusammen in die EU" | Foto: Marion Kraske © 2013Von Triest kommend rollt man dieser Tage gemächlich hinüber nach Slowenien, ohne von der vormaligen Grenze etwas zu spüren. Seit einigen Jahren ist sie schon Vergangenheit, eine schäbige Bude nur mit zugehängten Scheiben erinnert an die einstige Trennlinie zwischen beiden Ländern. Dann ist es so weit: Nach einer halben Stunde geht es hinüber nach Kroatien, mit einer Premiere: Erstmals ohne Anhalten, ohne Pass-Kontrollen, ohne das nur allzu bekannte, mürrische Nicken der launisch desinteressierten Zollbeamten. Europas neuestes Mitglied begrüßt seine Besucher ohne großen Firlefanz. Was für ein Moment! Freie Fahrt in einem freien Europa – das Land an der Adria gehört nun offiziell zum Club.

Eine seltsam wehmütige Freude über die neue Grenzenlosigkeit kann ich nicht verhehlen. Ich kenne Kroatien seit ich denken kann. Damals, in den 70er Jahren, war Kroatien noch nicht selbständig und Teil des jugoslawischen Staatswesens, Zagreb, die heutige Hauptstadt, die erste Anlaufstelle unserer alljährlichen Sommersonnefamilienbalkanurlaube.

Da kamen wir angetuckert in dem orange-roten Opel Kadett meines Vaters, die vierköpfige Familie aus dem Sauerland, übernachteten bei der Schwester meiner Mutter, die vermutlich die größten Schnitzel in ganz Jugoslawien briet. Ihr Mann, unser Onkel Pawo, war Metzger und die Fleischberge, die er auftischte, so überdimensioniert wie seine Gastfreundschaft samt seiner starken Pranken. Nach diesem obligatorischen Zwischenstop ging es weiter über die halsbrecherische Autoput nach Bosnien-Herzegowina, der Geburtsstätte meiner Mutter. Das genaue Wo und Wie war ja ohnehin egal, es waren ruhige Zeiten damals, im Verglich zu dem was kommen sollte, und das merkwürdige Gebilde im Süden Europas noch vereint: Jugoslawien. Die Gemeinschaft aller südslawischen Völker. Tito-Reich.

Auch wenn es damals schon rumorte – stetig beschwerte sich eine Bevölkerungsgruppe über die andere, der reiche Norden über den zurückgebliebenen Süden, der hitzige Süden über den arroganten Norden und alle zusammen über die zweifelsohne vorherrschende Dominanz der Serben im gemeinsamen Staat – so wirkte die sozialistische Republik an der Adria in ihrer Betulichkeit und Herzlichkeit doch wie für die Ewigkeit gemacht.

Blutige, böse Kriege

Ein Trugschluss, es folgten blutige, böse Bruder-Kriege, Cousins zogen gegen Cousins in den Krieg, Schwestern verweigerten den Kontakt, weil die eine mit einem Kroaten, die andere mit einem Serben verheiratet war. Familien zerbrachen, Freundschaften wurden dem ethnischen Prinzip geopfert. Und mittendrin: Kroatien, das sich 1991 mit Slowenien selbständig erklärt hatte, erbitterte Erbfolgekrieg um den Nachlass des einstigen Staates waren die Folge. Slowenien, kam einigermaßen glimpflich davon, hier währte der Krieg lediglich 10 Tage, in Kroatien und Bosnien wie auch später im Kosovo brach sich über Jahre erbitterter und verstörender Menschenhass Bahn. Vernichtung wurde zum obersten Gebot.

Vieles wurde damals zerstört. An erster Stelle die existierenden Gemeinsamkeiten, zugleich eine kostbare und sinnstiftende Kultur der Vielfalt. Seitdem schaut jede Nation durch ihre eigene enge, nationalistsch gefärbte Brille. Der Traum vom vereinten Reich aller südslawischen Völker – er ist ausgeträumt. Serbien geht bis heute das Eingeständnis ab, dass es vor allem die perfide Großmannspolitik von Slobodan Milosevic war, die die gesamte Region in den Abgrund gerissen hat. Doch auch Kroaten, Slowenen und Bosnjaken sind sich selbst am nächsten. Schuld haben stets die Anderen. Die eigenen Gräueltaten werden hingegen gerne zu Heldentaten stilisiert.

Die EU als Zielgröße

Um diese innere Blockade zu überwinden wäre eine neutrale Wahrheitsfindungskommision nach dem Vorbild Südafrikas sinnvoll. Mit ihr ließen sich die Taten allesamt schonungslos beim Namen nennen und aufarbeiten, dazu aber fehlt bislang die Grundlage. Auch deswegen ist die EU so wichtig, als Anker für die gesamte Region: Als Zielgröße zur Überwindung der weiterhin existierenden Nationalismen. Wie sagte mir einmal ein kluger Kollege aus Sarajevo: Wenn alle das gleiche haben, wenn sie alle Europäer sind, haben unsere Leute keine Zeit mehr darüber nachzudenken, ob sie Serben, Kroaten oder Bosnjaken sind.

Kroatien folgt nun nach Slowenien, Mitglied seit 2004, als zweite ehemalige jugoslawische Republik in die EU. Euphorie über die neu gewonnene Mitgliedschaft sucht man in der Bevölkerung jedoch vergeblich. Viele befürchten schlechtere Lebensbedingungen in dem ohnehin unter hohen Preisen ächzenden Land, sie machen sich Sorgen, wie sie ihre Familien ernähren sollen, wenn die Lebenshaltungskosten noch weiter steigen, sprechen über drohende Verarmung. Und wer will es ihnen verdenken: Für Lebensmittel, das ergab ein Vergleich vor dem EU-Beitritt, bezahlen die Kroaten schon jetzt mehr als die Deutschen – bei Durchschnittslöhnen von nicht mehr als 600 bis 1000 Euro.

Und es gibt noch ein Thema, das den Kroaten am Herzen liegt: Die ungeliebte Bevormundung. Hat man dereinst den Schritt in die Unabhängigkeit aus dem jugoslawischen Staatenbund gewählt – mit all seinen Konsequenzen -, um sich nun wieder unter das Joch eines neuen, fernen Befehlsgebers, diesmal in Brüssel, zu begeben? Viele winken ab: Europa ja, aber bitte keine Einmischung in unsere Angelegenheiten!

Diese Tonlage beherrschen sie alle, vom kroatischen Ingenieur, der lange in Deutschland lebte und nun in die Heimat zurückgekehrt ist, um hier seinen wohlverdienten Ruhestand zu verleben, bis hin zur Nachbarin, die in ihrer Garage mit einer kühn anmutenden, selbstgebauten Konstruktion Wein und Slivovits braut. Nach dem Beitritt sicherlich nicht mehr recht zulässig. Und wenn schon!

Die Helden von einst

Zaghaft macht sich bei manchen auch Hoffnung breit: Die Beendigung der Korruption, die Reform des Justizwesens ist vielen Kroaten ein dringendes Anliegen. Es ist ja nicht alles nur türkisblaue Adria, nicht alles nur Dolce Vita, das wissen sie aus ihren täglichen Erfahrungen mit der Bürokratie im Land. Unberechenbarkeiten machen das Leben mitunter beschwerlich – und teuer. Hier erwarten sich viele Abhilfe aus Brüssel, es sei schon wichtig, fordert so mancher Kroate erzürnt, dass eine starke Instanz den heimischen Politikern auf die Finger schaut.

Bedauerlicherweise hat sich die kroatische Regierung jüngst wenig mit Ruhm bekleckert: Sie hält an dem umstrittenen Ex-Geheimdienstchef fest, der mit einem internationalen Haftbefehl gesucht wird. Bundeskanzlerin Merkel glänzte denn auch bei den EU-Feierlichkeiten in Zagreb mit demonstrantiver Abwesenheit, zu recht. Und auch in der Bevölkerung werden zweifelhafte Gestalten noch immer zu Helden erklärt, viele agierten in der Grauzone zwischen Landesverteidigung und ethnischen Säuberungen. Die stark befahrene Straße in das bei ausländischen Touristen beliebten Strandbad Baska auf der Insel Krk säumt trotzig ein überdimensionales Plakat, das ein wenig wirkt wie aus einer anderen Zeit: Sie waren Helden, sie sind Helden uns sie werden es bleiben, tönt es da in großen Lettern den Anreisenden entgegen. Abgebildet an vorderster Stelle: Ante Gotovina, der Mann, unter dessen Regie im Rückeroberungsfeldzug „Oluja“ (Sturm) 1995 im Hinterland des Küstenstädtchens Zadar auch Frauen und Kinder und Alte hundertfach ihr Leben ließen. Ursprünglich 2011 vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu 24 Jahren verurteilt, wurde Gotovina von der Berufungsinstanz freigesprochen. Die düstere Bilanz des Kroaten-Sturmes bleibt dennoch: Insgesamt kamen 300 serbische Zivilisten ums Leben, 90.000 wurden vertrieben.

Ein neuer Geist bricht sich Bahn

Derweil schreitet die Zukunft in großen Schritten voran. In Split, wo Gotovina jahrelang inbrünstig verehrt wurde, ist das Heldenpamphlet verschwunden. Hier hat jetzt ein Bürgermeister das Sagen, der die neue Ära repräsentiert: Sich bei der alljährlichen Gayparade mit Lesben und Schwulen solidarisiert, für gleiche Rechte aller Bürger auf die Straße geht – bis vor einiger Zeit noch undenkbar. Zaghaft und doch nachhaltig bricht sich so ein neuer Geist Bahn, auch an jenen Orten, an denen so mancher noch krampfhaft an der Verklärung und Verkitschung des vermeintlich wahren Kroatentums festhält.

Fast rührend mutet derzeit der Versuch eines heimischen Baumarktes an, mit riesenhaften Werbeplakaten die Kroaten für das Projekt Europa zu gewinnen: „Gemeinsam in die EU“ heißt es auf einer kurvenreichen Straße bei Rijeka. Darunter bietet das Unternehmen Wandfarbe zum Sonderpreis. So sieht Willkommenfreude auf Kroatisch aus.

Kleingeistig wie immer hetzte die BILD-Zeitung vor einigen Wochen über den Beitritt des Adria-Staates: Wetten dass…. Kroatien das neue „Milliardengrab“ der Union wird. Die Springer-Postille blendet mit derart populistischer Stimmungsmache den Kontext aus, in dem sich die neue Erweiterung vollzieht. Kontinuierlich hat sich die EU zu einem riesigen Demokratisierungszug entwickelt, der immer weiter rollt und noch nicht am Ziel ist. Tschechien, Polen, Rumänien, Bulgarien, Slowakei, Slowenien sind seit Jahren Mitglieder, ihre Bürger, einst eingesperrt hinter Stacheldraht und Mauern, tummeln sich heute zusammen an den Stränden des Mittelmeeres, Handtuch an Handtuch, Sonnenliege an Sonnenliege, ganz so, als habe es den eisernen Vorhang nie gegeben. Auch das ist ein gelebtes Stück Europa. Und so banal das Zusammentreffen dieses bunten Völkergemischs an der türkisblauen Adria auch scheinen mag: Es dokumentiert doch die eigentliche Erfolgsgeschichte der EU.

Um diesen historischen Verdienst nicht dauerhaft zu gefährden, müssen die Regierungschefs einen Weg finden, wie Staatsversagen a la Griechenland effektiver kanalisiert werden kann, starke Schutz-Mechanismen müssen eingebaut werden, damit nicht das ganze System in Mitleidenschaft gerät und am Ende kollabiert. Denn Europa hat noch einiges vor: Der Weg der Erweiterung darf auch nach dem Neumitglied an der Adria nicht beendet sein. Serbien, dessen Assoziierungsabkommen mit Brüssel in September in Kraft tritt, Mazedonien und vor allem das in Agonie verfallene Bosnien-Herzegowina müssen zeitnah folgen. Die Grenzposten müssen fallen, der Geist des Gemeinsamen auch im Süden des Kontinents muss gestärkt werden, so wie früher – vor den unseligen Kriegen am Balkan. Erst wenn das neuerlich gelingt, ist Europas Staatenfamilie komplett.

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