LES-BAR: Europa erfindet die Zigeuner

Von Michael Kraske

Irgendwann im 14. und 15. Jahrhundert tauchen sie in den Städten Europas auf. Dunkelhäutige Menschen, fahrendes Volk, scheinbar ohne Herkunft und Heimat. Man nennt sie Egyptier, Zigeuner oder Gitanos. Die Europäer vermuten ihre Herkunft in Ägypten oder halten die Fremden für Spione der Türken. Die Stadtchroniken jener Zeit sind sich nur in einem einig: Die Fremden sind anders, bedrohlich, gefährlich. Zigeuner sind nicht sesshaft, glauben nicht an Gott, scheuen Arbeit und kennen keine Moral. Weil keiner was Genaues weiß, wissen alle, was man sich erzählt. Gerauntes wird für bare Münze genommen. Parallel zu den düsteren Volkslegenden fabuliert die Literatur das Naturhafte der Zigeuner herbei, den glühenden Sex der Zigeunerin, die rastlose Wanderseele des Zigeuners. Der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal hat die beklemmende Geschichte darüber geschrieben, wie Europa die Zigeuner erfindet. „Eine Geschichte von Faszination und Verachtung“ nennt er sein Buch im Untertitel. Es ist ein Buch über uralte und verstörend aktuelle Ängste.

Bogdal hat kein Buch über die Romvölker geschrieben. Er geht nicht der These nach, ob sie tatsächlich aus Nordwestindien stammen, wie vielfach kolportiert. Er beschäftigt sich nicht mit Entwicklungen und Binnenstruktur von Familien und Clans, mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Klärt nicht die Frage, was dran ist an den Jahrhunderte alten Vorurteilen. Diese Schwäche ist zugleich die große Stärke des Buches. Bogdal beschränkt sich darauf, ausschließlich die Wahrnehmung der Fremden als Zigeuner zu beschreiben. Dazu wertet er Chroniken, Erlasse von Fürsten und die europäische Literatur aus.

Auf diese Weise gelingt ihm ein Sitten-Porträt derjenigen, die voller Selbstgefälligkeit und unsicherer Identität auf die Zigeuner herabschauen. Wenn eine Mehrheit eine Minderheit zu kollektiven Kindsräubern erklärt, sagt das mehr über die Mehrheit aus als über die Minderheit. Die Zigeuner werden zur Projektionsfläche für verdrängte Abgründe, Ängste und Sehnsüchte. Sie geraten in einer europäischen Epoche des Umbruchs zwischen alle Fronten und Ländergrenzen, weil sie im nunmehr alles reglementierenden Territorialprinzip nicht vorgesehen sind, weil sie als Umherfahrende nicht in das starre Ständesystem passen und weil ihre Freiheit die von rigiden Kirchenregeln sanktionierten braven Leute ebenso fasziniert wie erschreckt.

Im Mittelalter werden die Zigeuner zu Freiwild. Jeder darf sie erschlagen. Landesgrenzen dürfen sie nicht überschreiten. Man lässt sie weder sesshaft werden, noch toleriert man ihr Nomadentum. Diesen europäischen Furor aus Mord und Unterdrückung zeichnet Bogdal drastisch und beeindruckend nach. Entwirft ein monströses Panorama, wie aus verstetigenden Hass-Mythen durch biologistische Rassentheorie schließlich im Nationalsozialismus organisierte Vernichtung wird. Die Verfolgung durch die Nazis selbst streift er nur. Dies ist kein Geschichtsbuch, auch keines über den Nazi-Terror an den Romvölkern. Stattdessen spürt Bogdal den Zigeuner-Stereotypen in den Romanen der europäischen Literatur nach und belegt mit akribischer Feinarbeit, dass sich die Grundannahme der Unvereinbarkeit zwischen westlicher Zivilisation und behaupteter Zigeuner-Eigenart bis heute nicht verändert hat.

Die Geschichte des Hasses auf die Romvölker lässt erahnen, wie brüchig die zivilisatorische Haut über kollektiven Feindbildern ist. Wie gefährlich die unreflektierte Zuschreibung kollektiver Eigenschaften, wenn sie zum Selbstläufer werden, losgelöst von Empirie und der Erfahrung menschlicher Begegnung. Zigeuner als Code für ein diffuses Sammelsurium aus überlieferten Vorurteilen lässt sich wahlweise ersetzen durch die Stereotype „Moslem“ oder „Jude“, von denen man auch genau zu wissen meint, wie die ticken, ohne überhaupt einen Moslem oder einen Juden zu kennen.

Dieser Tage mussten sich vor dem Amtsgericht Prenzlau fünf Bewohner aus dem Dorf Milmersdorf wegen Volksverhetzung, Sachbeschädigung und Nötigung verantworten. Sie hatten die Mitglieder des kleinen Familienzirkuses „Happy“ beschimpft, bedroht und mit Steinen beworfen. Der Zirkus musste unter Polizeischutz abbauen und das Dorf verlassen. Das Fremde macht noch immer Angst. Wer diese Angst schürt ist ein Brandstifter. Das lehrt die Geschichte über die Erfindung der Zigeuner.

Klaus-Michael Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner – Eine Geschichte von Faszination und Verachtung; Suhrkamp 2011

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