Der grässliche Deutsche

Von Michael Kraske

Der Sturm, wechselweise der Entrüstung und der lange angestauten Begeisterung, war vorhersehbar und kalkuliert, zeigt aber, dass Grass wenigstens eins gelungen ist: Aufreger zu sein. Die Zutaten Israel und Antisemitismus garantieren maximale Aufmerksamkeit, wenn ein Nobelpreisträger sie düster raunend in Heldenpose vorträgt. Dementsprechend lang war dann auch die Liste derer, die sich Grass vornahmen: Reich-Ranicki (ekelhaft), Wolf Biermann (stümperhafte Prosa), Beate Klarsfeld und alle, die im deutschen Feuilleton was auf sich halten. Dazu das israelische Einreiseverbot und fertig ist der Skandal. Zurück bleibt der ratlose Betrachter mit den wild diskutierten Fragen: Hat der Grass denn nun Recht? Und ist das antisemitisch, was er sagt?

Ein beliebtes Muster des modernen Antisemitismus ist es, Juden (vornehmlich deutsche Juden, die noch nie in Israel waren) für israelische Politik verantwortlich zu machen. Das hört sich dann in etwa so an wie: Na, was Ihr Juden da drüben mit den Palästinensern macht ist aber auch nicht ganz koscher. Genau hier verläuft die Trennlinie: Natürlich kann man Israel und dessen Politik kritisieren, auch polemisch, radikal und einseitig. Wenn man aber alle Juden für die Politik des Staates der Juden in Geiselhaft nimmt, ist man ein Antisemit. Nun gibt es freilich subtilere Spielarten, indem man Israel prügelt und die Kritik mit der Kritik an deutschen Juden wie dem leidenschaftlich verhassten Michel Friedman verquickt wie das damals Jürgen Möllemann und die FDP auf schamlose Weise taten. Für die Grass-Debatte helfen diese allgemeinen Kategorien nicht weiter, nur das, von dem Grass dachte, dass es gesagt werden muss.

Zunächst mal ist das Gedicht „Was gesagt werden muss“ gar kein Gedicht, wie Wolf Biermann treffend bemerkt hat, vielmehr ein in verquaste literarische Form gebrachter Ausbruch, die zu Papier gebrachte Wutrede eines Schriftstellers. Das ist nicht weiter schlimm, hat aber zur Folge, dass in und zwischen den Zeilen viel Wut, wenig Erhellendes und einiges Absurdes steht. Ahmadinedschad ist sicher ein „Maulheld“, wie Grass ihn bezeichnet, aber ist er nur ein Maulheld? Er ist auch Präsident und wiederholt seine Vernichtungsphantasien gegen Israel so fanatisch, dass man es zumindest nicht absurd finden kann, ihn beim Wort zu nehmen. Und war nicht Hitler bis zum Münchner Abkommen auch nur ein Maulheld? Sind diese aus Israel vorgebrachten Analogien als Hirngespinste abzutun?

Man kann nun die Option eines israelischen Angriffs auf die iranischen Atomanlagen falsch und kreuzgefährlich finden, aber das macht das Konstrukt nicht richtiger, Israel sei der „Verursacher der erkennbaren Gefahr“. Iran droht Israel mit Vernichtung, nicht umgekehrt. Das macht die aus israelischer Staatsräson resultierende Haltung, atomare Bedrohung notfalls präventiv zu bombardieren nicht weniger prekär, aber es macht aus der von Grass behaupteten „Wahrheit“ eine Verdrehung der Tatsachen.

Was das Gedicht ärgerlich und befremdlich macht, ist die Haltung von Grass selbst. Er wirft sich in die Pose des Tabubrechers, der sich endlich traut, die Wahrheit über den Weltfrieden-Bedroher Israel auszusprechen. Ein Tabu, das es ebenso wenig gibt wie ein Denkverbot, Fehler der Integration von Ausländern in Deutschland zu benennen. In dieser gegen einen behaupteten Mainstream gerichteten Selbstinszenierung ähnelt Grass tatsächlich dem anderen schnauzbärtigen Möchtegern-Tabubrecher Thilo Sarrazin. Die israelische Politik des aggressiven Siedlungsbaus und der Bomben als Reaktion auf Selbstmordattentäter wird im politischen Diskus seit Jahren heftig kritisiert. Das heißt aber nicht, dass jede Kritik wiederum kritiklos bleiben müsse. Im Gegenteil. Rede und Gegenrede sind das Wesen von Diskurs.

Grass hat in seinem Text gleich die erwartete Kritik antizipiert. Er behauptet ein Schweigegebot in Bezug auf Israel und sieht alle, die dagegen verstoßen mit dem „Verdikt Antisemitismus“ bedroht. Wie befangen, wie verklemmt der Deutsche beim Thema Israel und Juden ist. Mit dem Taschenspieler-Trick, dem argumentativen Gegner dadurch den Mund verbieten zu wollen, dass jeder Einwand gegen die eigene Position zur Antisemitismus-Keule umgedeutet wird, kommt Grass nicht durch. Er behauptet damit ein Wächter-Kartell und bastelt sich eine Verschwörung, die eines außer Acht lässt: Den modernen Antisemitismus, der Israel und „die“ Juden in einen Topf schmeißt, der die einen nennt, um die anderen zu prügeln.

Grass selbst ist es, der die ganz große Keule schwingt. Unter der existenziellen Gefahr für uns Deutsche macht er es in seinem Ausbruch nicht, wenn er von „Planspielen“ spricht, „an deren Ende als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind“. Mit dieser apokalyptischen Bedrohung beginnt er sein Ringen um das Ende seines nicht mehr zu ertragenden Schweigens. Das vor allem macht seinen Text so schwer erträglich. Der Judenstaat als permanenter atomarer Planspieler, dem am Ende wir Deutschen zum Opfer fallen könnten. Das ist selbstmitleidheischender Nonsens, der von den „Menschen in dieser mit Wahn okkupierten Region“ bestenfalls als dreiste Anmaßung, aber auch als Verhöhnung empfunden werden kann.

Das alles macht das israelische Einreiseverbot nicht weniger farcehaft. Dass über Grass in den Internet-Foren leidenschaftlich und heftig und gehässig und wutschnaubend diskutiert wird, sagt hingegen nichts über Iran und Israel, aber viel über uns. Es ist doch interessant, dass es bei vielen Diskutanten gar nicht mehr um die Frage geht, was Grass genau geschrieben hat, sondern darum, dass man das ja wohl auf jeden Fall noch sagen darf. Wenn die Grass-Debatte ein Gradmesser für unseren Umgang mit dem Judentum und dem Staat Israel ist, dann sind wir nach all den Versöhnungen und Beteuerungen noch nicht allzu weit gekommen. Weil immer noch die Reflexe anspringen. Weil so viel aufgestaut, unterdrückt und runter geschluckt scheint, das uns um die Ohren fliegen kann, wird nur der Deckel vom Topf der schlummernden Volksmeinung genommen. Das hat eigentlich gar nichts mit Grass zu tun, kann aber helfen, an unserem Selbstverständnis zu zweifeln. So souverän und cool und vor allem normal wie zu Sommermärchenzeiten sind wir Deutschen vielleicht gar nicht, jedenfalls nicht immer.

Und was ist nun mit diesem komischen Gedicht, das kein Gedicht ist? Es könnte sein, dass ein großer alter Mann mit verständlichen biographischen Komplexen einen Haufen Stuss über Israel zusammen schreibt, aber trotzdem kein Antisemit ist. Es könnte auch sein, dass ein ernsthaft um den Weltfrieden Besorgter mit seinen Worten auch dem Bruch jener Tabus Vorschub leistet, die er gar nicht brechen wollte. Mit einer ehrlichen Antwort ist im Gebrüll von allen Seiten nicht mehr zu rechnen.

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