Von Marion Kraske
In Bosnien-Herzegowina regt sch ein breiter Bürgerprotest. Gegen Korruption, politischen Stillstand und die grassierende Arbeitslosigkeit. Das Friedensabkommen von Dayton muss dringend neu verhandelt werden.
Die Menschen in Bosnien-Herzegowina gehen derzeit auf die Straße, landesweit randalieren sie, lassen ihrem Zorn freien Lauf, gegen Korruption, gegen die Vorherrschaft nationalistischer Parteien, gegen Armut und Massenarbeitslosigkeit.
Bosnien-Herzegowina? War da was? Viele haben es schon vergessen, dieses Land, in dem sich Anfang der 90er Jahre verheerende Kriege Bahn brachen, infolge derer die Republik des einstigen Vielvölkerstaates Jugoslawien aufgeteilt wurde. Nun sind die Bilder wieder da, brennende Gebäude, Gewalt, Aufruhr. Und dennoch ist das aktuelle Aufbegehren der Menschen in Bosnien ein Hoffnungsschimmer.
Denn der Protest eint die Menschen, die seit den blutigen Bürgerkriegen vor allem in ethnischen Kategorien denken und leben. Plötzlich ist es egal, ob sie orthodoxe Serben, muslimische Bosnjaken oder katholische Kroaten sind, sie gehen gemeinsam auf die Straße, skandieren “Diebe raus, Diebe raus”. Der Feind ist nun nicht mehr der Nachbar mit anderen ethnischen Wurzen, sondern eine Politikerriege, die das Land ausgeplündert hat, die sich eingerichtet hat in nationalistischen Machtspielchen – zum eigenen Vorteil, zum Nachteil des kleinen Balkanlandes.
Die Losung, die die Demonstranten ausgeben, lautet denn auch nicht weniger als: Revolution. Viele sind es leid, weiter in Agonie zu verharren, in einer dauerhaften Phase des Stillstands, in der es weder wirtschaftlich noch politisch nach vorne geht, in der eine Atmosphäre des Niedergangs und der Depression vorherrscht.
Doch wie soll sich ein Land weiterentwickeln, das de facto kein funktionierendes Staatswesen aufweist, auch so viel Jahre nach dem Krieg nicht? Schuld an diesem Zustand ist das Abkommen von Dayton, mit der die internationale Gemeinschaft unter maßgeblicher Beteiligung der USA 1995 zumindest eines erreichte: Dass das Töten und Vergewaltigen in dem Balkanland beendet wurde.
Mit dem Abkommen von Dayton wurde Bosnien-Herzegowina in zwei Entitäten aufgeteilt: In die Republika Srpska, den serbisch dominierten Teil, und die Föderation der Bosnjaken und Kroaten. Diese Aufteilung hat die ethnische Spaltung des Landes auf Jahre zementiert. Vor allem der serbisch dominierte Teil obstruiert wo er nur kann bei dem Versuch, eine gesamtstaatliche Ebene aufzubauen – man kungelt lieber mit den serbischen Brüdern in Belgrad und droht immer wieder unverhohlen, gänzlich aus dem bosnischen Staatenbund auszuscheren. Für die innere Verfasstheit des Landes war und ist dieses Vorgehen der Republika Srpska und ihrer politischen Führungsriege bis heute verheerend. Nationalistisches Zündeln, im serbischen Teil Bosniens versteht man sich prächtig auf dieses Handwerk.
Zudem ächzt das Land unter folgenschweren politischen Fehlleistungen: So wurden etliche Staatsbetriebe zwar verkauft, die Privatisierungen aber verliefen alles andere als erfolgreich: Vier ehemalige Staatsbetriebe, die heute in privater Hand sind, gingen pleite, die Arbeiter erhielten mehrere Monate keinen Lohn. „Es wird hier einfach nicht besser, sondern Monat für Monat schlechter,“ klagt eine Frau aus der Nähe von Sarajevo und bringt damit auf den Punkt, was viele im Land denken: So kann es nicht weiter gehen.
Der Protest dieser Tage ist denn auch ein klarer Appell an die Politik. Ein umfassender Neustart muss her, auf allen Ebenen. Fast 20 Jahre nach Ende des Krieges gleicht der bosnische Staatsaufbau einem kafkaesken Witz: Während die Massen in Arbeitslosigkeit versinken – jeder Zweite ist hier ohne Job – leistet sich Bosnien, auch eine Folge des Daytoner Abkommens, nach wie vor eine monsterhafte Verwaltung, die weltweit ihresgleichen sucht: Die gerade mal 3,8 Millionen Einwohner werden von 150 Ministern und nicht weniger als 14 Regierungschefs regiert. Dieser künstlich aufgeblähte Apparat behindert sich vielfach gegenseitig und macht eine Normalisierung des Staatswesens nahezu unmöglich.
Vor diesem Hintergrund dreht sich in Bosnien alles um die Aufgliederung nach ethnischen Gesichtspunkten. Nach wie vor muss alles dreifach vorhanden sein – entsprechend der drei ethnischen Gruppen im Land. Welch groteske Züge dies mitunter trägt, zeigte sich vor einiger Zeit an der Fußballnationalmannschaft, die sich jahrelang drei Präsidenten leistete – einen Serben einen Bosnjaken, einen Kroaten. Weil sich Serben und Kroaten weigerten, das paritätisch besetzte Dreiergremium aufzugeben und es ablehnten, nur einen einzigen Vertreter zu benennen, wurde die Mannschaft 2011 zeitweise von der FIFA gar gesperrt. Schließlich fand man einen Kompromiss, die omnipräsente Dreiteilung setzt sich nun im Exekutivkommittee der Mannschaft fort.
Diese Grotesken erscheinen nach außen lächerlich banal, im Innern machen sie notwendige Reformen und eine Fortentwicklung des Landes schlicht unmöglich. Um die alles dominierende Spaltung überwinden zu können, bedarf es daher dringend einer staatlichen Rundeneuerung. Dreh- und Angelpunkt muss dabei das Friedens-Abkommen von Dayton sein. Zur Beendigung des Krieges war diese Übereinkunft sinnvoll, zum Aufbau eines funktionierenden Staates erweist sie sich nun als Haupthindernis. Der ehemalige kroatische Präsident Stipe Mesic hat die internationale Gemeinschaft mit den Dayton-Unterzeichnerstaaten richtigerweise aufgefordert, eine rasche Revision des Abkommens vorzunehmen. Wer die Anliegen der Demonstranten in Bosnien ernst nimmt, sollte daher umgehend handeln: Der bosnische Gesamtstaat muss dauerhaft und nachhaltig gestärkt, die einzelnen Entitäten dagegen geschwächt, der Einfluss der nationalistischen Kräfte minimiert werden. Nur so lässt sich die Einheit Bosniens auf lange Sicht aufrecht erhalten.