Von Marion Kraske
Da hatte einer verdammt viel Wut im Bauch, als er jüngst auf den Vorstoß des dauersendenden Neckermannphilosophen Richard David Precht antwortete, der zuvor auf Cicero Online eine tief greifende Bildungsrevolution gefordert hatte. Der, der sich da in Rage schrieb, war der amtierende Bildungsminister Mecklenburg-Vorpommerns, Mathias Brodkorb. Starke Worte fand der ansonsten eher unscheinbare Newcomer im Amt. Schon der Titel seiner “polemischen” Replik auf den Prechtschen Vorstoß („Unser Problem in der Bildung? Ewige Besserwisser!“) ließ erahnen, um was es dem SPD-Nachwuchs ging: Bitte keine Einmischung, schon gar nicht auf dem hochheiligen Terrain des Bildungswesens. Oder: Lasst uns, bitte schön, störungsfrei weiter wurschteln.
Mit seiner Tirade machte der Minister vor allem klar, dass er von demokratischen Diskursen augenscheinlich nicht allzu viel hält. Dass er es als dreiste Einmischung empfindet, wenn vermeintlich Dahergelaufene wie Precht (oder auch Hirnforscher Gerald Hüther) darauf verweisen, dass sich die Lerninhalte an deutschen Schulen in den vergangenen Jahrzehnten nicht wesentlich verändert haben, dass der Unterricht nur allzu oft auf die Vermittlung mausetoten Faktenwissens hinausläuft und dass – nicht zuletzt als Folge des Pisa-Desasters – immer mehr in die Lehrpläne hineingestopft wird, ohne gleichzeitig altes, längst überholtes Zeug auszumisten und kritisch zu hinterfragen: Brauchen unsere Kinder diesen oder jenen Stoff überhaupt noch? Oder ist er verstaubt, verrottet und kann durch andere Qualifikationen ersetzt werden?
Als gänzlich ehrenrührig empfindet es der Minister, dass die Genannten das heilige Bildungssystem als öde und unkreativ brandmarken und darin eine Ursache dafür sehen, dass die Kreativität und Begeisterungsfähigkeit der Schüler Schuljahr um Schuhljahr gekillt wird. Brodkorb läuft in seiner Replik fast Amok – ganz so, als handele es sich bei den Einwänden um unerhörte Majestätsbeleidigung. In der Tonlage vergisst sich der Minister gar: „Meine Lehrerinnen und Lehrer waren nicht die Ehrenvorsitzenden in irgendwelchen Sado-Maso-Clubs.“ Was soll uns das sagen, bitte schön?
Was aber treibt einen sozialdemokratischen Minister Jahrgang 1974 nur dazu, einen öffentlich geführten Diskurs über längst ausstehende Themen wie die Zukunftsfähigkeit unseres Bildungssystems in Grund und Boden zu verdammen? Noch dazu mit einer greisenhaften Attitüde, die man eigentlich von den reformunfähigen und -willigen Granden der Kohlschen Saumagen-Republik kennt?
Auch inhaltlich kann der geifernde Minister kaum punkten. Sind alle genannten Einwürfe tatsächlich so abwegig? Wenn dem so wäre – warum ist dann das Vertrauen in die Einrichtung Schule in weiten Teilen der Elternschaft so niedrig, dass immer mehr eifrig bemüht sind, ihre Kinder so gut es geht außerschulisch zu fördern? Warum setzt sich bei vielen das Gefühl fest, dass das System Schule irgendwo in der Mottenkiste der 80er Jahre stecken geblieben ist und lediglich einzelne Lehrer mit ihrem ganz persönlichen Engagement wichtige Akzente setzen – sozusagen gegen das verstaubte Gesamtsystem agierend? Gut, wenn Kinder im Laufe ihrer Schulkarriere an einige Vertreter dieser zweifelsfrei existierenden Enthusiastenriege geraten – dumm wenn nicht.
Man muss nicht in allen Punkten Prechts Meinung sein (seine Lösungsansätze bleiben dünn) – und doch trifft der den Kern, wenn er fragt, wo denn die Begeisterten, Kreativen und Neugierigen im Kreis der Lehrenden sind, erst recht bei den „Kultusbürokraten und Kulturpolitikern“? Wo wird Schule hierzulande tatsächlich noch als einzigartiges Experimentierfeld präsentiert, wo wird das Kreative an Schulen gefördert, das kritische Denken, das analytische Durchdringen, die Freude am Debattieren und Argumentieren? Wo wird er ausgebildet, der freie Geist? In Mecklenburg-Vorpommern etwa, dem Land von Minister Brodkorb, wo nicht wenige Jugendliche den Verlockungen rechtsextremen Denkens erliegen?
Wenn überhaupt, sind es doch im wesentlichen einzelne Vertreter – zu meinen Zeiten etwa Religionslehrer Müller – die die Schulzeit primär als erhellende Kür zur Ausbildung und Vermittlung sogenannter Sekundärtugenden verstehen und nicht als trauerbärtiges Pflichtprogramm rauf und runter gepaukter Mathegleichungen und lateinischer Sinnsprüche, die man dann zu einem großen Teil ohnehin niemals wieder benötigt.
Und: Ist es nicht wirklich die glorreiche Ausnahme, wenn, wie jüngst bei einer Einschulung in Leipzig, der Schulleiter höchstpersönlich den Anspruch formuliert, seine Schüler nicht zuallererst zu Leistungsträgern machen zu wollen, sondern zu freien, glücklichen, toleranten Menschen? In der Aula Aufhorchen: Da stand tatsächlich einer mit einer Vision, die er gleich zu Beginn den aufgeregten I-Käckern mit auf den Weg gab. Wo sind solch beflügelnden Leitideen sonst im Schulbetrieb zu vernehmen?
Ein ernst zu nehmender Bildungsminister könnte eben hier ansetzen, könnte den Prechtschen Appell aufnehmen und weiter spinnen, wie sich neue Impulse setzen, zukunftsweisend neue Wege beschreiten ließen. Er könnte kritisch hinterfragen, warum von Bayern bis Schleswig-Holstein an jeder Ecke andere Lernmodelle ausgetestet werden, wenige Kilometer weiter aber schon wieder ganz andere Kracher en vogue sind. Er könnte konstruktiv darlegen, warum wir uns noch immer ein föderales System leisten, das ein buntes Flickenmeer an unterschiedlichsten Leistungsniveaus produziert – weit davon entfernt, international wettbewerbsfähig zu sein.
Brodkorb aber macht nichts von alledem. Statt dessen höhnt er über die eingeforderte Revolution, schimpft über die „an den Rand der Anmaßung heranreichende Lehrerbeschimpfung“, um dann zu jammern, dass nicht die Schulen das Problem seien, sondern die ewigen Schlaumeier. Jene, die „vom Ledersofa aus in lässiger Pose“ Ratschläge verteilten. Eben diese gemeinen Ledersofalümmler hauten dann, Achtung es folgt die altbekannte Opfer-Theorie – böse und gemein auf die armen Lehrer ein.
Was für ein Murks!
Für Brodkorb reduziert sich das Thema am Ende auf ein Hauptproblem, das so abgenutzt ist wie ein alter Frottee-Waschlappen: Dass Lehrer nicht mehr ausreichend als Respektperson angesehen werden. Gewiss sei nicht mehr der „Rohrstock gefragt“ (wohlgemerkt, da spricht einer von Deutschlands jüngsten Ministern), aber ein bisschen mehr Respekt müsse schon sein. Ein Lehrer, der von seinen Schülern nicht ernst genommen oder gar verachtet werde, doziert Brodkorb, „kann pädagogisch nicht viel erreichen“.
Aus bumm, das war´s! Der gute alte Respekt, vielleicht ja auch ein wenig Untertanendenken (?), und schon fluppts wieder an deutschen Schulen. Zu höheren Geistesblitzen wollte oder konnte sich der Minister (oder sein Redenschreiber) nicht hinreißen. Mit dieser erbarmunsgwürdigen Interpretation der Bildungsproblematik aber belegt Brodkorb: Precht und Hüther haben mit ihren Thesen mehr als Recht. Wer bei so einem drängenden Thema nicht mehr vorzubringen weiß als eine derartig armselige Jammer-Arie, da können auch die paar pseudoeintellektuellen philosophischen Querverweise nichts ausrichten, der ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Wenn das die geistigen Ergüsse unserer Bildungsverantwortlichen sind, können wir (und unsere Kinder) wohl nicht allzu viel erwarten.