Von Siegesmund von Ilsemann
Auf bis zu einer Million Menschen wird die Zahl der Todesopfer des skrupellosen Diktators Saddam Hussein geschätzt. 35 Jahre benötigte der Gewaltherrscher für sein mörderisches Werk, mit dem er 1968 nach dem erfolgreichen Putsch seiner Baath-Partei begann, und das 2003 mit seiner Entmachtung durch die Invasionsarmee der Koalition der Willigen endete. Doch beendet wurde damals nur die Herrschaft Saddams nicht aber die Gewalt in Mesopotamien. Was mindestens ebenso erschreckt wie der menschenvernichtende Eifer des Baath-Regimes ist der Leichenteppich, der seit dessen Ende über dem geschundenen Zweistromland ausgebreitet wurde.
Ein Jahrzehnt nach Beginn des amerikanischen Kriegs gegen den Terror hat die Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW) jetzt Bilanz gezogen und kommt auf erschreckende 1,7 Millionen Todesopfer in diesem längst weltweit geführten Krieg. Allein im Irak sind nach vorsichtiger Schätzung mindestens anderthalb Millionen kriegsbedingter Opfer seit 2003, dem Beginn der amerikanisch geführten Invasion, zu beklagen.
Selbst wenn Saddam Hussein seiner Blutgier mit derselben Intensität wie zuvor ein weiteres halbes Jahrhundert hätte freien Lauf lassen können, was schon seine biologische Restlebensspanne verhindert hätte: Den Leichenberg, den die Invasoren nach ihrem Abzug aus dem Irak zurücklassen, hätte selbst dieser Massenmörder nicht aufgeschichtet.
Doch während der – völlig zu Recht – wegen seiner Verbrechen vor Gericht gestellt und nach einem in vieler Hinsicht fragwürdigen Eilverfahren hingerichtet wurde – eine Bestrafung die aus gutem Grund in den meisten Staaten längst geächtet ist, genießen diejenigen, die sich nach Saddam ans Abschlachten von Irakern machten, unbehelligt ihren Ruhestand.
Niemand zerrt George W. Bush, den Initiator dieses völkerrechtswidrigen Gemetzels, zu dem er die Uno auch noch mit platten Lügen zu drängen versuchte, vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Niemand prangert an, dass Bushs Mordgehilfe, Großbritanniens Ex-Premier Tony Blair, mit neuen internationalen Aufgaben statt mit einem Kriegsverbrecherprozess bedacht wurde.
Wie so oft nimmt die veröffentlichte Meinung kaum Notiz von der haarsträubenden Bilanz des Kriegs gegen den Terror, der weltweit vermutlich weitere 200000 Todesopfer gefordert hat, etwa die Hälfte davon – nach sehr grober Schätzung – auf den Schlachtfeldern Afghanistans, auf denen die Nato die islamistischen Taliban besiegen wollte. Sie wären, wenn das möglich wäre, noch sinnloser gestorben als all die anderen Kriegstoten. Denn wenn sich die Nato-Truppen bis Ende 2014 sieglos vom Hindukusch zurückziehen müssen, wird es nach Einschätzung selbst ranghoher westlicher Militärs „bestenfalls wenige Monate dauern“, bis turbanbewehrten Taliban dort wieder die Macht übernehmen.
Fast unbeobachtet sterben weitere Zehntausende im pakistanischen Terrorkrieg, etliche Tausend durch Drohnen, die – fern aus den USA gesteuert – immer wieder bei ihren „Präzisionsbombardements“ ganze Familien und halbe Dörfer ausrotten.
Mit jedem Toten im Irak, in Afghanistan und über all sonst, wo im Namen westlicher Werte Menschen vom Leben zum Tod befördert werden, wachsen der Hydra des internationalen Terrors nicht nur zwei sondern oft unzählige neue Häupter. Diese „Rächer“ verstärken laufend die Reihen jener, die im Kampf gegen den Westen ihre einzige Überlebenschance sehen.
Und dennoch findet Irak keinen Platz mehr in den Schlagzeilen, Afghanistan kaum noch und Pakistan noch weniger. Die Selbstgerechtigkeit, mit der die Kreuzritter des Westens unsere angeblich so hehren Werte mit Feuer und Schwert zu verbreiten trachten, findet ihre Entsprechung in der Gleichgültigkeit, welche unsere Öffentlichkeit gegenüber den Ursachen und Folgen dieser Kreuzzüge zeigt. Völlig zu Recht prangert der IPPNW-Report an, dass selbst Kriege mit sechsstelligen Opferbilanzen von unseren gleichgeschalteten Medien entweder gar nicht oder nur sehr selektiv zur Kenntnis genommen werden:
„Von einer objektiven und kontinuierlichen Berichterstattung über Kriege kann keine Rede sein. Während Kriege mit sehr hohen Opferzahlen, wie zum Beispiel der seit Jahren andauernde Krieg im Kongo, kaum Beachtung findet, wird über Menschenrechtsverletzungen in Syrien laufend berichtet. In Libyen endete die Berichterstattung praktisch mit der Ermordung Gaddafis, in Bahrain verschwanden Berichte über Menschenrechtsverletzungen und Tötungen von Demonstranten von der Tagesordnung. Hintergrundinformationen, historische, geographische, gesellschaftliche und kulturelle Tatsachen werden insbesondere dann nicht zur Verfügung gestellt oder verfälscht, wenn aktuelle politische Ziele dem entgegenstehen.“
Und dass unsere Außenpolitik vor allem vom wirtschaftlichen Eigennutz diktiert wird, und dann – mit eifriger Hilfe der veröffentlichten Meinung – zur Tarnung flugs ein Mäntelchen aus unseren Werten von Demokratie, Freiheit und Menschrechten erhält, wird kaum notiert – und wenn doch, wie etwa von der Partei „Die Linke“, sogleich als blanke Ideologie verunglimpft.
Da wundert es kaum noch, dass Deutschland noch immer „am Hindukusch verteidigt wird“, wie einst der SPD-Grande Peter Struck behauptete, obwohl die überwältigende Mehrheit der Deutschen diesen Einsatz ablehnt. Und ebenso wenig kann unter diesen Umständen erstaunen, dass immer mehr Wähler dem Politikbetrieb den Rücken kehren – entweder, in dem sie ganz den Urnen fern bleiben oder Parteien wie den Piraten ihre Stimme geben, die zu diesen wie vielen anderen Fragen noch nicht einmal eine Meinung anbieten.
Und so mutiert der deutsche Krieg an fernen Fronten zum Feldzug gegen die Fundamente unserer Demokratie.