Wo ist die Avantgarde?

Von Klaus Jarchow

Politikblog debattiersalon | Gastautor Klaus Jarchow | Foto: © Jarchow unter CC-LizenzManchmal frage ich mich schon, warum ich mir keine Buchbesprechungen im Feuilleton mehr antue. Den Schreibern dort – dies mein erster Ansatzpunkt – fehlt jedes Gespür dafür, dass sie es mit ‘Geistesgeschichte’ zu tun haben, dass es also um Fortschritt und Rückschritt geht auf jenem Gebiet, wo die Erschließung neuer sprachlicher Möglichkeiten und unerhörter Motive ihr Thema wäre. ‘Avantgarde’ hieß das früher mal. Wie fern sind jene Zeiten, wo Schriftsteller noch den Dadaismus, Expressionismus, Surrealismus oder Futurismus als gemeinsames Projekt begriffen, wo Bücher wie der ‘Ulysses’, die ‘Recherche’, die ‘Pompes funèbres’, das ‘Buch der Unruhe’ oder auch Heimito von Doderers mäandernde Riesenwerke erschienen. An derartigen ‘Wagnissen’ und ‘fruchtlosen Experimenten’ müht sich heute kaum jemand mehr ab, ein David Foster Wallace oder ein Jirgl, das sind Oasen in einer endlosen Plapperwüste voller Handlungsskelette von der Stange, wo die Lektoren alles erschlagen, was noch Leben zeigt. Der Autor sitzt derweil – tausendfach geklont und mit geklauten Motiven – im Kämmerlein und versucht, einen ‘Bestseller’ im Sinne der Verlagserwartungen zu schreiben. Neben der Mausmatte liegen der Sol Stein und der Bescheid vom Finanzamt – die sind Motoren seiner Produktivität: Kreativäffchen im Käfig der Ökonomie …

Unsere Feuilletonisten vollziehen diese Nichtentwicklung brav nach. Wird bspw. irgendwo ein Buch aus dem Hanser-Verlag über den grünen Klee gelobt, dann müssen wir nicht lange blättern, um die korrespondierende Verlagsanzeige zu finden. Feuilleton heute ist eine Abteilung des Marketing, geschätzte zwei Drittel der Artikel sind Public Relations oder Müll. Von einer Richtung, einer Bewegung, einem kulturellen Ziel keine Spur – immerfort “führt der Autor die Heldin in die abgründigen Tiefen der menschlichen Seele“. Da schaudert es Lieschen Müller, da kauft sie diesen vielfach bewährten Kitzel … und die Gebüldeteren suchen nach einem wohligen Dunkelmunkel und einem ebenso ungefähren wie ungefährlichen Pessimismus, sie greifen zum Peter Handke, zum Botho Strauß – oder zu irgendeiner Aphorismenschleuder für Arme. Und im lebenskritischen Falle eines Falles gäbe es dann ja noch die dienst(k)leisternde ‘Lebenshilfe’ à la Richard David Precht …

Kurzum: Geistesgeschichtlich schreiben auch wir Texte zur Zeit, wir produzieren eine ‘Literatur im Neoliberalismus’, oder Verwertbares ohne Wert – eine iPod-Literatur für die iPod-Generation: Nachdenken überflüssig, wird’s zu fordernd, wird einfach zum nächsten Titel geswitcht. Das Urteil über die Literatur unserer Zeit wird später einmal wohl so ausfallen, wie dasjenige über die Salonliteratur während der preußischen Restauration. Wer da dann die Spreu vom Weizen trennen wollte, behielte kaum etwas in der Hand. Dass parallel unsere ‘brotlosen Künste’, also Germanistik, Romanistik, Slawistik usw., gesellschaftlich nur noch belächelt werden, ja, für Beleidigungen taugen, auch das spricht für diesen Befund.

Bei mir liegen deshalb nur noch die ‘alten Tröster’ auf dem Nachttisch, zur Zeit Stendhal oder auch immer mal wieder Jean Paul oder Wieland. Ich mache den Zirkus nicht mehr mit. Neuerer Zuwachs kommt mir nur noch aus dem Genre der Historiker ins Regal. Die erzählen nun mal die besseren Geschichten …

Ein Crosspost von Autor und Journalist Klaus Jarchow. Er schreibt auf seiner Seite stilstand über Medien und Sprache. In seinem Buch „Nach dem Journalismus – Schreiben in Zeiten des Web 2.0“ geht er der Frage nach, was das gerade eigentlich für ein ‚Medienwandel’ ist, den wir erleben, und erklärt in einem umfangreichen Handwerk-Teil die Techniken des Erzählens. Gedruck: 39,99 Euro (hier), als PDF 7,99 Euro (hier).

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