Wende-Hälse

Von Marion Kraske

Es ist immer recht unterhaltsam, wenn politische Akteure neue Zeitalter ausrufen. Wie einst Helmut Kohl, der nach seiner Wahl zum Kanzler 1982 ehrfurchtgebietend die Losung der „geistig-moralischen Wende“ ausgab, um sich vom roten Vorgänger Helmut Schmidt ostentativ abzugrenzen. Die historische Wende, die zur deutschen Einheit führte, kam zwar erst Jahre später. Was den ausposaunten hehren Grundsätzen auf dem Fuß folgte, war jedoch zunächst einmal die Flick-Affäre, die schonungslos die parteiübergreifende Käuflichkeit der bundesdeutschen Politik durch strippenziehende Wirtschaftsbosse offenlegte. Strauss, Kohl, Graf Lambsdorff – sie alle ließen sich vom schurkigen Großindustriellen Flick finanziell füttern, Graf Lambsdorff musste später aufgrund der illegalen Zuwendungen als Wirtschaftsminister seinen Hut nehmen.
Schließlich nicht zu vergessen: Die CDU-Spendenaffäre, mit der nach Ende der Kohlschen Amtszeit eine über Jahre systematisch betriebene klandestine Spendenpraxis offengelegt wurde, mit Schattenkonten und dubiosen Konstrukten wie der in der Schweiz angesiedelten Norfolk-Stiftung. Verdeckte und illegale Parteispenden der Christdemokraten wurden, so weit sind die Vorgänge geklärt, vom Paten der C-Partei gezielt zur Finanzierung von Wahlkämpfen verwende – profitieren konnte jeder, vorausgesetzt er stelle sich im „System Kohl“ mit dem Boss gut. Dass er Gelder in Millionenhöhe kassierte, hat Kohl eingeräumt, die Spender nannte der Bimbeskanzler mit dem moralischen Habitus freilich bis heute nicht – er gab, man muss das verstehen, sein mit Sicherheit sehr ehrenwertes Ehrenwort.

Es war wohl eben diese Tradition, in der auch Guido Westerwelle, damals noch FDP-Chef, im vergangenen Jahr auf dem Dreikönigstreffen seiner Partei mit dem Brustton der Überzeugung den Topos der geistigen und moralischen Wende bemühte. Nun gut, man mag Verständnis dafür aufbringen: Da hatte Westerwelle jahrelang versucht, seinen Lebenstraum zu verwirklichen, um endlich als Koalitionspartner in die Regierung einzuziehen. Und so wollte der mit seinen Verbaltiraden gerne mal übers Ziel hinausschießende ewige Oppositionshaudegen dem für ihn persönlich denkwürdigen Akt einen rhetorischen, wenn nicht sogar historischen Meilenstein entgegensetzen. Nach dem rot-grünen Chaos werde es wieder aufwärts gehen mit der Republik, weniger spätrömisch dekadent wie bei Hunderttausenden Hartz-IV Empfängern. Endlich, so die Botschaft, komme wieder Ordnung in die Bude. „Leistung“, erklärte Westerwelle, müsse sich wieder lohnen. Zudem versicherte der Liberale, stehe seine Partei für eine „Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen“, unbeirrt werde man am Ziel einer größeren Steuergerechtigkeit arbeiten.
Wie das aussieht, zeigte die frisch gebackene Regierungs-Truppe bereits mit einer ihrer ersten Amtshandlungen, indem sie das euphemistisch aufgepeppte „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ auf den Weg brachte. Profiteure dieser Gesetzesinitiative waren unter anderem die Hoteliers: Für sie wurde die Mehrwertsteuer kräftig gesenkt. Warum? Aus einer gewissen moralischen Verpflichtung heraus? Schließlich hatte die Düsseldorfer Substantia AG der FDP zwischen 2008 und 2009 insgesamt 1,1 Millionen Euro zukommen lassen – eine der großzügigsten Spenden in der Parteigeschichte. Nettes Detail am Rande: Substantia-Chef August Baron von Finck, einer der Reichsten des Landes, hält Anteile an der Mövenpick-Gruppe – diese wiederum betreibt bundesweit nicht weniger als 14 Hotels.
Aus der versprochenen Entlastung für die kleinen Einkommen, von den Koalitionären vollmundig als Hauptargument für eine anvisierte Steuersenkung ins Feld geführt, wird dagegen wohl nichts. Die schwarz-gelben Steuerpläne, das ergeben Berechnungen der freien Universität Berlin, führten dazu, dass Niedrigverdiener lediglich minimal profitieren würden, während Großverdiener mit mehr als 250.000 Euro Jahresgehalt – welch wunderbarer Schachzug liberaler Steuergerechtigkeit – die größten Vergünstigungen verbuchen könnten.
Und auch im Bereich der Wissenschaft zeigt sich die Partei der geistig-moralischen Wende ungemein kreativ, wenn es darum geht, geltende Standards zu perforieren.
Da wurde die Europaparlamentarierin Koch-Mehrin, die zu Selbstvermarktungszwecken der Öffentlichkeit mal den Doktortitel, mal den gewölbten Babybauch präsentierte, wegen Plagiierens überführt, mit der Folge, dass ihr die Universität Heidelberg nach eingehender Prüfung den Doktor aberkannte. Die derart Degradierte fand zeitgleich indes nichts dabei, sich als Vollmitglied im Forschungsausschuss (!) des EU-Parlaments zu verdingen. Erst nach harscher Kritik namhafter deutscher Wissenschaftsorganisationen räumte sie schließlich ihren Posten.
Auch ihr Kollege, der FDP-Europa-Abgeordnete Jorgo Chatzimarkakis, ist seinen Doktortitel aufgrund ungenügender wissenschaftlicher Zitierpraxis erst einmal los. Statt allerdings seine Fehler einzuräumen, macht sich der Liberale nun landesweit mit der These lächerlich, er sei – ausgerechnet – an der Universität Oxford zu der schludrigen Zitierweise verleitet worden. Jenen Wissenschaftlern, die ihn im Internet überführten, wirft Chatzimarkakis vor, eine Jagd auf Politiker zu veranstalten, er sei Zuständen wie zu Zeiten „der altgriechischen Tyrannis“ ausgliefert.
Klare Worte der FDP-Spitze zu diesen geistig-moralischen Leuchten? Nicht erinnerlich. Zu sehr ist die Partei mit anderen Volten befasst, etwa im Bereich der Außenpolitik. Hier wandelt der selbsternannte Erneuerer Westerwelle, den das Ausland als untalentiert-selbstverliebten Mr. Zero im Außenamt wahrnimmt, unerschrocken auf neuen Pfaden. In ungewohnter Eintracht enthielt sich Westerwelle gemeinsam „mit so bedeutenden Ländern und auch Partnern wie Brasilien, wie Indien, wie Russland und auch China“ bei der Abstimmung über die Flugverbotszone in Libyen. Eine Wende, in der Tat: Weg von einer berechenbaren Position im Kreise der bisher relevanten internationalen Bündnispartner hin zu einer gefährlichen Isolierung in der westlichen Welt.
Flankiert wird diese frappierende Neuausrichtung deutscher Stolper-Diplomatie durch eine besorgniserregende Entwicklung im Bereich der Rüstungspolitik. So hat das schwarz-gelbe Kabinett klammheimlich dafür gesorgt, dass 200 Panzer vom Typ Leopard an Saudi-Arabien geliefert werden können, an jene Diktatur also, die vor wenigen Wochen die Demokratiebestrebungen im Nachbarland Bahrain mit eigenen Soldaten niedermähen ließ. Mit diesem Deal, über den sich die Koalition im Stile verstaubter Politbüros beharrlich ausschweigt, hat die Merkel-Westerwelle-Truppe in einer Phase, in der sich demokratische Leitideen in Arabien gegen Despotie und Kleptokratentum siegreich durchsetzen, wie keine andere Regierung zuvor handstreichartig geltende Leitlinien deutscher Rüstungspolitik über Bord geworfen, die da heißen: Keine Aufrüstung von Krisengebieten. Westerwelles vollmundig ausgerufene Wende ist wahrlich Realität: Sie steht für perpetuierte Prinzipienlosigkeit und moralischen Niedergang.

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