Wahlprüfsteine: Zehn wirklich gute Gründe, wählen zu gehen | #btw13

Von Michael Kraske

debattiersalon | Merkel und Steinbrück im TV-Duell Zehn Gründe wählen zu gehen Bundestagswahl | Screenshot: Phoenix Als Jürgen Trittin dieser Tage in einer von Marietta Slomka befremdlich moderierten ZDF-Sendung namens „Wie geht’s Deutschland?“ zusammen mit Joachim Herrmann von der CSU und Hermann Gröhe von der CDU und Andrea Nahles von der SPD dümmliche Spielchen absolvieren musste, sah er zwischendurch so ratlos aus, wie man sich auch als Zuschauer dieser Pseudo-Politshow fühlte. Offenbar traut man sich beim ZDF nicht mal drei Wochen vor der Bundestagswahl, Politik klamaukfrei und sachorientiert zu präsentieren. Stattdessen eine Spielshow zum Fremdschämen, die politische Inhalte eher verschämt am Rande beimischt.

Oder man befragt Gysi, Trittin und Brüderle als Vertreter der „kleinen“ Parteien wie es BR-Schnarchnase Sigmund Gottlieb tat, ganz nah an den Interessen des Bürgers, was seiner Meinung nach bedeutete, die Politiker ausschließlich darauf abzuklopfen, was sie dem Bürger aus der Tasche ziehen beziehungsweise ihm in dortiger belassen wollen. Sowohl die Themenarmut der Wahlkämpfer als auch die TV-Inszenierungen suggerieren ein Zerrbild: Danach gibt es kaum brisante Streitfragen, kaum ungelöste Missstände, kaum große Baustellen. Die Kandidaten versuchen mit dem zu punkten, was sie für populär halten. Angela Merkel hat Angela Merkel als Programm. Peer Steinbrück soziale Korrekturen, also vor allem Geld.

In den entpolitisierten Merkel-Jahren ist eine kollektiv geteilte Wahrnehmung so, dass alles irgendwie ganz gut läuft in diesem Land. Dabei gibt es die großen ungelösten Fragen, die aufgeschobenen Richtungsentscheidungen und unkorrigierten Missstände. Die folgenden Themen wären es wert, zur Grundlage einer Wahlentscheidung für oder gegen CDU, SPD, Grüne, FDP oder Die Linke gemacht zu werden. Einige davon wie das Asylthema sind so heikel, dass die Parteien einen Teufel tun werden, sie zum Wahlkampfbestandteil zu machen. Aber sie sind so wichtig, dass man die Parteien als Wähler darauf abklopfen sollte, welche Haltung sie dazu haben und ob überhaupt eine:

1. Die Schere zwischen Arm und Reich darf nicht weiter aufgehen, sondern muss im Gegenteil wieder mehr geschlossen werden. Länder mit großer sozialer Ungleichheit haben mehr Kriminalität, mehr psychische Krankheiten, mehr Gewalt, größeres Schulversagen etc. Es ist im Sinne aller, übrigens auch der Reichen, wenn die Ärmsten nicht bitter arm und die Reichen nicht superreich sind. Das hat das Forscher-Team um Richard Wilkinson und Kate Pickett in ihrem Buch „Gleichheit ist Glück“ empirisch nachgewiesen. Mindestlohn ist dabei nur ein erster Schritt, um die schlimmsten Ausbeutungen zu verhindern. Spitzenverdiener sind über Jahre massiv entlastet worden. Sie müssen stärker ran als bisher. Weder werden sie aufgrund stärkerer steuerlicher Belastungen aus Deutschland flüchten noch aufhören, Geld zu verdienen.

2. Aus der NSU-Mordserie müssen endlich richtige Konsequenzen gezogen werden. Das unkontrollierte Eigenleben der Verfassungsschutz-Ämter muss beendet werden. Die Parlamentarischen Kontrollgremien müssen ohne wenn und aber die demokratische Kontrolle ausüben. Personen, die sich dem entgegen setzen, müssen entlassen und Strukturen verändert werden. Eine Schulungs-Offensive muss Justiz und Polizeibehörden zu Rechtsextremismus, rechter Gewalt und Rassismus weiter bilden. De facto hat sich nach Auffliegen des NSU-Terrors bei Polizeibehörden, Staatsanwälten und Richtern nichts am Umgang mit rechter Gewalt geändert. Besonders die Bundesregierung ist über tatenlose Worthülsen der Kanzlerin und eine absurde Gängelung gesellschaftlicher Akteure durch die überforderte Ministerin Kristina Schröder nicht hinaus gekommen.

3. Eine deutsche Bundesregierung muss ihre Bürger vor dem Ausspähen der Privatsphäre und der Verletzung von Persönlichkeitsrechten durch Geheimdienste oder wen auch immer wirksam schützen. Eine Bundesregierung muss ihren Bürgern gegenüber loyal und ehrlich sein, erst danach den Bündnispartnern. Es darf nicht sein, dass beim Umgang mit eigenen oder fremden Geheimdiensten die geltenden Gesetze missachtet werden. Wo Gesetzeslücken im Hinblick auf das Internet bestehen, müssen die geschlossen werden. Anders gesagt: Mails ausschnüffeln lassen und nichts dagegen zu tun geht gar nicht und ist ein Abwahlgrund!

4. Die beschämende Zwei-Klassen-Medizin muss beendet werden. Es muss der Grundsatz gelten, dass der Bedürftigste die beste Medizin erhält, nicht der Reichste. Die Trennung in Privat- und Kassenpatienten spaltet die Gesellschaft in Menschen erster und zweiter Klasse. Das Gerede vom Wettbewerb der Kassen ist nichts weiter als schlecht verhüllte Lobby-Politik. Es herrscht kein Wettbewerb. Vom Wahnsinn mehrerer Hundert Krankenkassen profitieren bestenfalls deren Vorstände. Dass nur noch einen Termin beim Facharzt bekommt, wer als Privatpatient satte Honorare verspricht, darf nicht länger toleriert werden.

5. Deutschland muss sich dazu bekennen, ein Einwanderungsland zu sein und diese Einwanderung mit dem Ziel bestmöglicher Integration organisieren. Dazu braucht es das klare Bekenntnis: Wir brauchen euch! Wir wollen euch! Wir sehen euch als Chance, mit uns dieses Land zu gestalten, nicht als Bedrohung für die vermeintlich bedrohte Spezies der „Deutschen“ und nicht als Sozialschmarotzer und nicht als Kulturvermischer. Es braucht Sprachkurse, Hilfsangebote vor allem für die Kinder. Es braucht die Anerkennung von Abschlüssen, damit ausgebildete Fachkräfte nicht dazu gezwungen sind, putzen zu gehen, sondern da arbeiten können, wo sie dringend gebraucht werden. Dazu gehört auch, Asylbewerber menschenwürdig zu behandeln, ihnen Wohnungen zu geben, sie arbeiten zu lassen, damit sie nicht in miserablen Unterkünften vor sich hin dämmern müssen. Dazu braucht es gerade auch die Haltung und das Bekenntnis derjenigen, die ihre Politik als christlich begründet verkaufen.

6. Bildung für alle! OECD-Studien kritisieren gebetsmühlenartig die fehlende Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems und dass Kinder aus sozial schwachen Familien auf der Strecke bleiben. Auch wenn Bildung Ländersache ist: Das Land braucht moderne Schulen, moderne Lehrer und Strukturen, die aus dem Job-Wechsel eines Lehrers in ein anderes Bundesland kein unlösbares Problem machen. Seit Jahren palavern die Bildungsexperten über Reformen, aber echte Ganztagsschulen sind nach wie vor Ausnahmen. Nicht Pisa-Spitzenwerte sind das Ziel, sondern ein System, das weniger Verlierer und mehr gut ausgebildete Gewinner produziert.

7. Niemand darf aufgrund seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden. Schwule oder lesbische Partnerschaften sind nicht anders zu behandeln als heterosexuelle. Punkt.

8. Die Banken und „Finanzmärkte“ müssen strengen Regeln und echter Kontrolle unterworfen werden. Nach der großen Weltfinanzkrise ist nichts passiert. Die Börsen, wie sie heute funktionieren, sind keine Märkte, sondern Wettbüros, die in aberwitzigem Tempo, zum Teil computergesteuert, mit Milliardensummen zocken. Der Handel mit Schrottpapieren ist nicht abgeschafft. All das wird mit dem Hinweis hingenommen, dagegen könne man eh nichts machen. Die Bundesregierung hat keine einzige strukturelle Konsequenz aus dem Irrsinn der vergangenen Jahre gezogen. Im Gegenteil verteufelt sie marginale Ansätze wie eine Finanztransaktionssteuer als Teufelszeug. Gegen die Sozialisierung der Banken-Verluste hat es von den vermeintlich marktradikalen Verfechtern einer Selbstregulierung keinen Aufschrei gegeben. Im Wahlkampf spielt das Thema überhaupt keine Rolle, seit raus kam, wie Peer Steinbrück von Bank zu Bank tingelte, um satte Vortragshonorare zu kassieren.

9. In vielen Altenheimen erhalten alte Menschen nicht viel mehr an Versorgung als Essen, Waschen, Hinlegen, weil das Personal fehlt oder auf dem Zahnfleisch kriecht. Die Gesellschaft wird älter, aber sie hat keinen Plan, wie sie das so organisieren kann, dass ein möglichst selbstbestimmtes, autonomes Leben für die meisten bis zuletzt möglich ist. Und es wird bald massenhaft alte Menschen geben, die von ihrer kümmerlichen Rente nicht leben können. Weil millionenfach so wenig verdient wird, dass am Ende nur eine almosenhafte Rente rauskommt. Es braucht eine Grundrente über Hartz-Niveau. Diese Solidarität muss sich die Gesellschaft leisten. Eine menschenwürdige Alterssicherung davon abhängig zu machen, ob man privat vorgesorgt hat, wie Frau von der Leyen plant, ist nicht nur absurd, sondern auch zynisch. Wovon soll eine Friseurin, die vier Euro Brutto pro Stunde verdient, bitte schön etwas zur Seite legen?

10. Ein Regierungsstil, der das eigene Handeln technokratisch als alternativlose Sachentscheidung verkauft, vorgetragen in der Pose der über den Parteien stehen Übermutter, die für alle das „Ganze“ im Blick hat, schadet dem Land. Politik ist immer der Wettstreit und die Entscheidung für oder gegen ein Argument. Unterschiedliche Interessen sind nicht Ausdruck von schädigendem Gezänk, sondern der legitime Pluralismus einer Gesellschaft. Wir sind in unserem Wollen nicht alle gleich und unterschiedslos. Wer Volkes Wille beschwört, denkt völkisch. In einer demokratischen Gesellschaft haben Menschen ganz verschiedene Interessen, Anliegen, Ziele und Ideale. Politik muss zwar versuchen, diese in Kompromissen zusammen zu binden. Aber sie darf nicht den Eindruck erwecken, als gebe es für alles immer nur die eine, nämlich die eigene Lösung. Ein Bundeskanzler muss zu den wichtigen Streifragen Haltung beziehen und darf nicht abtauchen. Politik darf kein heimliches Handwerk sein, das so unauffällig ausgeübt wird, als gebe es gar keine Politik.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Diese zehn Gebote sind keine Anleitung zum Wahlsieg. Die ressentimentgeladene Mitte der Gesellschaft, die in Ost und West, in Hessen wie in Sachsen sozialschwach oder gutsituiert, gegen Asylbewerberheime wettert, wird die Forderung nach Menschenwürde und Solidarität eher auf die Palme als an die Wahlurne bringen. Und wenn doch, dann um Hass und Hetze eine Stimme zu geben. Die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung warnen seit Jahren, dass Ängste, Vorurteile und Aggressionen vor allem in der sogenannten Mittelschicht zunehmen und deren Bereitschaft zur Solidarität abnimmt.

Die zehn Punkte sind Forderungen, die das Land demokratischer, menschlicher, friedlicher und gerechter machen würden. Die den Zusammenhalt und werthaften Kitt erhöhen würden. In der ARD-Fragerunde wurde Frau Merkel gefragt, wie sie zu Adoptionen durch Homosexuelle stehe. Sie sagte, von ihr werde es keinen Gesetzesentwurf geben, der Gleichstellung herbeiführen würde. Eine Begründung blieb sie schuldig. Sie habe kein gutes Gefühl dabei, weil sie kein gutes Gefühl dabei habe. So in etwa war ihre Argumentation. Alles Gesäusel von Wertschätzung und Respekt konnte nicht verkleistern, dass sie am Ende nicht mehr vorbringen mochte als ihr konservatives Bauchgefühl. Ihr Gestammel war entwaffnend. Am Ende geht es bei der Bundestagswahl auch um komplizierte Detailfragen und Kompromisse. Aber es geht auch um Hü oder Hott. Da kann Frau Merkel noch so viele Rautenhände formen.

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