Ukraine-Krise: Der verfahrene Konflikt

Von Prof. Frank Golczewski

Wie schon im September 2014 hofft man, dass in der Ostukraine nun die Waffen schweigen werden. Ob es dazu kommt und wie die Lage sich dann konsolidieren könnte, das sich vorzustellen, fehlt im Augenblick die Phantasie. Es gibt zu viele Variablen, zu viele unbekannte Hintergedanken auf allen Seiten, um seriös etwas vorhersagen zu können. Man kann aber das, was bisher geschah, Revue passieren lassen und sich dazu einige Gedanken machen.

Gerade wird der Jahrestag des Majdan-Umsturzes begangen, aber es wird eine selbstkritische Schadensanalyse vorgenommen, die aufzeigen würde, wie beide Seiten des russisch-ukrainischen Konflikts einerseits bewusst eskalierten, andererseits jegliche deeskalierenden Versuche bewusst ignorierten. In Kiew sucht man die Schuld bei Russland und unternimmt keinen Versuch, die Radikalen im eigenen Land zu bändigen (die etwa von einem Feldzug zur Rückeroberung der Krim träumen). In Russland wird nach sowjetischem Demonstrationsmuster unter der Überschrift „Anti-Majdan“ eine Kundgebung gegen Staatsstreiche veranstaltet, so als ob die Ukrainer versucht hätten, die Macht in Russland zu übernehmen. Die russischen Machthaber geben damit aber wenigstens zu, dass sie mit einer Opposition im eigenen Land rechnen.

Dass der mit drei politischen Parteiführern unter westlicher „Aufsicht“ vereinbarte, verzögerte Rücktritt des im Westen der Ukraine verhassten Präsidenten Janukovyč, der immerhin mehrheitlich gewählt worden war, von Radikalen des Majdan (die bis dahin dort keineswegs die Mehrheit bildeten) nicht akzeptiert wurde und das Papier bereits am nächsten Tag Makulatur war, bot Moskau die Möglichkeit zu behaupten, es gebe in der Ukraine keine Rechtsstaatlichkeit mehr. In den nächsten Tagen ergriffen die politischen Repräsentanten der „Vaterland“-Partei Turčynov und Jacenjuk im ukrainischen Parlament die Macht und verteilten bis auf einen einzigen alle Posten zwischen Vertretern ihrer Partei und der rechtsradikalen Svoboda.

Die Krim war erst der Anfang

So weit, so schlimm. Dass aber im Anschluss daran auf der Krim der Chef einer Drei-Prozent-Partei die Macht ergriff, nahm die Auseinandersetzungen in Kiew nur zum Anlass. Es gab nichts, was die Krim und ihren anerkannten Status als „Autonome Republik“ in Frage gestellt hätte. Und man beobachtete auch keinen Sturm auf Militaria-Shops, bevor wenig später Soldaten in abzeichenlosen Uniformen strategische Positionen besetzten und die ukrainischen Kasernen zu blockieren begannen. Putin hatte erklärt, es handle sich nicht um russische Soldaten, sondern um Menschen, die sich selber ausgestattet hätten, nur um wenige Wochen später russische Soldaten auszuzeichnen, die sich um den Anschluss der Krim verdient gemacht hätten.
In der Ostukraine wiederholte sich das Szenario. Die von der Verchovna Rada verabschiedete Verordnung über die Abschaffung des das Russische zulassenden Regionalsprachengesetzes war eine grenzenlose Dummheit der Rechtsradikalen und der Rada-Abgeordneten, die am 23. Februar 2014 mehr oder weniger automatisch alle Vorlagen abnickten. Turčynov verweigerte die Unterschrift unter das Gesetz. Die Verabschiedung wurde breit publiziert, die Verhinderung nicht. Im März und April 2014 wurden dann zunächst Verwaltungsgebäude im Osten von Unbekannten gestürmt, und Putin erklärte, dass in Novorossija, wie Katharina II. das Gebiet genannt hatte, eigentlich nur Russen lebten. Begleitende Demonstrationen brachten etwa in der Millionenstadt Doneck nicht mehr als 2-3000 Menschen zusammen.

Immer brutaler

Aber der ukrainische Staat war schon so weitgehend verrottet, dass es nicht gelang, die Besetzungen mit polizeilichen Maßnahmen zu beenden. Die Verbrennung von zahlreichen Menschen, die am 2. Mai vor einem rechten Mob in Odessa in das Gewerkschaftshaus geflüchtet waren, wurde bis heute nicht untersucht, geschweige denn geahndet. Der seit Juni 2014 unter russischem Kommando (Girkin – „Strelkov“) im Osten ausgetragene Schießkrieg forderte Verluste auf beiden Seiten und wurde immer brutaler. Ein erster Waffenstillstand im September scheiterte, und was im Februar 2015 eingeleitet wurde, ist noch ungewiss.

Was die Lage so verfahren macht:

- Auf beiden Seiten gibt es neben regulären Soldaten (was als Beschreibung für die Separatisten schon problematisch ist) sogenannte selbständige Verbände, darunter auf Regierungsseite von Oligarch und Gouverneur Kolomojskij ausgestattete Formationen, aber auch rechtsradikale Gruppierungen von UNA/UNSO, dem „Rechten Sektor“ und dem neonazistischen Bataillon „Azov“. Bei den Separatisten gibt es sogenannte Kosaken, eine „Russische Orthodoxe Armee“ und verschiedene Gruppierungen rechtsradikaler Splittergruppen. Hinzu kommen tschetschenische Kämpfer, russische Verbände und Spezialtruppen, sowie andere „Urlauber“, wie sie bestenfalls von russischer Seite ausgewiesen werden.

- Die bei Putin-Verstehern beliebte Version, es handle sich um ein verständliches Aufhalten des US-amerikanischen geopolitischen Vormarsches geht ins Leere. Zunächst einmal ist das geopolitische Denken eine russische Spezialität (von Putin wie dem Kommunisten-Chef Zjuganov gleichermaßen vertreten). Die US-amerikanischen Versuche, den eigenen Einfluss auszudehnen und anderen Staaten ihr System zu diktieren, haben in letzter Zeit noch alle im Fiasko geendet (Vietnam, Somalia, Irak, Afghanistan, Libyen), der von Putin als Bedrohung angeführte „Raketenschutzschirm“ ist längst wegen Nicht-Funktionierens abgeblasen. 2008 hat sich gezeigt, dass der Versuch der Regierung Georgiens, in die NATO aufgenommen zu werden, auf klare Ablehnung gestoßen ist.

- Die russische Betonung der „strategischen Bedeutung“ der Krim ist lächerlich. Geht man von einem Gegeneinander aus (was nun wirklich nicht zwingend ist und erst durch eine westliche ungeschickte Politik und russische Phobien zur diskursiven Realität wurde), dann ist das Schwarze Meer ein Teich, an dessen einzigem Ausgang das NATO-Land Türkei seit Jahrzehnten unverändert sitzt.

- Wer sich aber auf eine Verschärfung des Konflikts einlässt und wie in der Ostukraine eine bewaffnete Auseinandersetzung ermöglicht, der setzt erst die radikalen und verantwortungslosen Kräfte in Bewegung, deren latente Existenz er angeblich zu bekämpfen meint. Das gilt auch für die USA, denn deren angekündigte Entsendung von „Ausbildungsbataillonen“ (so fing auch der Vietnam-Krieg an) erfolgt erst jetzt und kann die andere Seite nur weiter radikalisieren und bis dato unsinnige Behauptungen nachträglich bestätigen.
Dann also die Vereinbarung von Minsk II, um die eine Nacht lang gerungen wurde: Alle Achtung vor der Nachtruhe der Politiker, aber vielleicht hätte man sich doch etwas mehr Zeit nehmen sollen, um ein professionell akzeptables Dokument zu produzieren.
Warum durfte noch bis Samstagnacht gekämpft werden? Die Waffenstillstandsbefehle sind am 14. 2. innerhalb weniger Stunden an die Truppen ergangen, wem sollten also noch 60 Stunden Krieg nützen? Die Separatisten bezogen sich in Bezug auf die Lage in Debal’cevo, wo auch danach noch tagelang weitergekämpft wurde, darauf, dass hierüber nichts in den Abkommen stände, also sei Debal’cevo von dem Waffenstillstand ausgenommen.

Respektiert Russland die Souveränität der Nachbarn?

Wir wissen aber, dass in Minsk stundenlang über Debal’cevo diskutiert wurde – ob es nun einen Kessel gebe oder nicht. Schon daraus erkennt jeder Laie, dass es den Parteien auf etwas ankam, was man dann der Einfachheit halber ausgeklammert hat. Wenn man über etwas Friedlich-Harmloses verhandelt, kann man Konfliktpunkte zunächst beiseite lassen, um sie dann im Lichte der Gesamtregelung einvernehmlich zu lösen – hier ging es aber nicht zuletzt um Menschenleben. Und alle nächsten Schritte sind Zukunftsvisionen, deren Umsetzung man vorerst nur erhoffen kann, auch wenn es einen Hoffnungsschimmer gibt, dass es zumindest eine vorübergehende Entspannung geben wird.

Wer Putin am Morgen im Minsk vor die Presse hat treten sehen, dem musste klar ein, wer sich hier in aufgeräumter Stimmung als Sieger über unprofessionelle Optimisten sah. In Budapest sprach er von dem Verlieren der Ukraine „gegen ehemalige Bergleute und Traktoristen“. Das klingt mehr nach Verhöhnung des Gegners als nach Ausgleich.
Daraus entsteht die Kernfrage: Ist Russland überhaupt bereit, die Souveränität seiner post-sowjetischen Nachbarn anzuerkennen oder strebt es nach der Wiederherstellung eines Russischen Großreiches? Nicht etwa eines sowjetischen, von Ideologie ist hier nichts zu sehen, nur das Gespenst von Einflusssphären und Machtbereichen.

Krim gleich Tempelberg?

Putins Vergleich der Krim mit dem Tempelberg lässt nichts Gutes erwarten. Einerseits ist die Taufe Vladimirs in Chersones auf der Krim im Jahre 988 eher zufällig dort und auf von ihm erobertem byzantinischem Gebiet erfolgt. Andererseits ist aber der Jerusalemer Tempelberg ein seit Jahrzehnten ungelöstes Problem, wobei sich die Auseinandersetzung darum in letzter Zeit noch radikalisiert hat. Eine Sakralisierung politischer Auseinandersetzung führt ziemlich automatisch in eine Unlösbarkeit, weil die politischen Vulgarisierungen monotheistischer Religionen ihrem Wesen nach nicht kompromissfähig sind.
Und noch etwas: Nehmen wir einmal an, die Separatisten seien eigentlich ganz friedlich, und nur die Regierungstruppen der Ukraine hätten eine Reihe von Städten und Dörfern des Donbass zu Ruinen zerschossen. Wie rechtfertigt man, dies in Kauf zu nehmen, nur um in einem ephemeren „Neurussland“, in einem Gebiet mit zerstörter Infrastruktur zu sitzen und sich von Menschen regieren zu lassen, denen man nicht im Dunkeln begegnen möchte? Brecht und sein Kaukasischer Kreidekreis lassen grüßen. Offenbar hat es sich auch nach Jugoslawien, Syrien, Irak etc. nicht herumgesprochen, dass sich Krieg in keinem Falle lohnt – weder in Washington, noch in Moskau, Kiew oder Doneck.

Wenn Reporter aller Richtungen im Sommer 2014 Einheimische befragten, kamen Vorwürfe gegen die jeweils andere Seite zur Sprache. Inzwischen hört man immer häufiger: „Es ist egal, wer uns regiert – lasst uns nur leben!“ Leider ist diese Einsicht bei den Befehlshabern beider Seiten noch nicht angekommen.

Frank Golczewski ist Professor für Geschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg. Er war im letzten Jahr mehrfach in der Ukraine und hat die politischen Entwicklungen dort hautnah verfolgen können. Sein Buch “Geschichte der Ukraine” gilt als Standwardwerk.

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