Städtesterben: Zeit für einen neuen Heimatkampf

Von Martin Häusler

Es ist einfach, von Misswirtschaft zu sprechen, wenn es um die katastrophale Finanzlage der nordrhein-westfälischen Städte und Gemeinden geht. Zu viele Amateure in den Rathäusern, heißt es gerne, zu viele Selbstdarsteller und Dampfplauderer, denen es nur darum geht, ihr Ego auszuleben und sich in der Stadtgeschichte zu verewigen. Natürlich begegnet man auch solchen Leuten, wenn man vor Ort recherchiert, aber sie sind nicht der Grund für die verheerende Schuldenkrise. Wenn nur acht der 400 NRW-Kommunen einen ausgeglichenen Haushalt zustande bekommen, dann ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass die restlichen 392 ausschließlich von Idioten geführt werden.
Wenn diese Städte Jahr für Jahr 2,4 Milliarden Euro zusätzliche Schulden auf ihren bestehenden 60-Milliarden-Euro-Schuldenberg packen müssen, dann ist etwas falsch im Staate, ist etwas falsch im System. Ein System, dessen Unwuchten perverserweise erst dann korrigiert werden, wenn die Kommunen – wie im Falle des sogenannten Einheitslastenausgleichsgesetztes – vor die Verfassungsgerichte ziehen.

Die Hauptverursacher für das Ausbluten der Heimat von knapp 18 Millionen Nordrhein-Westfalen sitzen in Berlin. Sie sitzen auch in Düsseldorf. Und sie sitzen in Brüssel. Denn inzwischen werden 90 Prozent der kommunalen Aufgaben durch Bund, Land und EU vorgegeben. Nur zehn Prozent passieren folglich im Sinne der Eigenverantwortlichkeit. Und die ist eigentlich im Grundgesetz festgeschrieben. In Artikel 28, Absatz 2. Von der „kommunalen Selbstverwaltung“ ist da die Rede. Im gleichen Absatz wird sie allerdings durch eine verhängnisvolle Formulierung pulverisiert: Das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung zu regeln, gelte nur „im Rahmen der Gesetze“. Das führte in den letzten Jahrzehnten immer stärker dazu, dass die kommunale Selbstverwaltung einer staatlichen Fremdverwaltung weichen musste. Diese Wahrheit ist den Bürgern unserer Städte nahezu unbekannt.

Hans Eichel, einst Oberbürgermeister von Kassel, erkannte schon Mitte der 70er, dass „sich die jeweils höhere staatliche Ebene auf Kosten der nächstniedrigen schadlos hält.“ 35 Jahre sind seit dieser Erkenntnis vergangen. Ohne jede Wirkung. Ein unerträglicher Zustand, wo doch der Staat in der Stadt stattfindet, also vor unseren Haustüren und in der Nachbarschaft greifbar wird. So sorgt ein bürgerfernes Berlin für eine Politik- und Staatsverdrossenheit an der Basis der Republik und ist damit demokratiefeindlich zu nennen.

Immer neue Leistungsgesetze – wie das über die Versorgung der unter Dreijährigen mit einem Kindergartenplatz – werden von Bund und Land zulasten der Städte und Gemeinden beschlossen, ohne die entsprechende Finanzausstattung ausreichend zu gewährleisten. Ohne zu beachten, ob eine Stadt überhaupt leistungs- oder zahlungsfähig ist, wird von ihr erwartet, bis 2019 einen kommunalen Soli in den Fonds Deutsche Einheit einzuzahlen – und dafür sogar weitere Schulden aufzunehmen. Und: Seit November 2008 verabschiedete der Deutsche Bundestag 14 steuerentlastende Gesetze, die den Kommunen 4,8 Milliarden Euro Mindereinnahmen bescheren. Selbst das zuletzt verabschiedete Wachstumsbeschleunigungsgesetz – in den Städten auch Frustrationsbeschleunigungsgesetz genannt – verursacht jährlich weitere Einnahmeausfälle von 8,4 Milliarden Euro. Weitere Ausfälle drohen. Den Städten immer mehr Kosten zuzuweisen und ihnen gleichzeitig ihre Finanzierungsgrundlage zu entziehen, dieser Mechanismus kann nicht gut gehen.

Er führt notgedrungen dazu, dass die Städte dem wachsenden Schuldenberg mit Sparmaßnahmen entgegentreten, die das Leben in den Vierteln trister machen, aber kaum etwas bringen. Für Leverkusen – meine wie 136 andere NRW-Kommunen unter Nothaushalt stehende Heimatstadt – heißt das: Abbau von 600 Verwaltungsstellen in 18 Jahren (spart 30 Millio¬nen Euro pro Jahr), Streichung von freiwilligen Leistungen in Sport und Kultur in den letzten sechs Jahren (spart 20 Mio.), Tilgung von 40 Millionen Euro Investitionsdarlehen. Dazu: Schließung von Außenstellen der Verwaltung, einem Bürgerbüro, drei Bädern, der Stadtgärtnerei, Einstellung des Bücherbusses, Zusammenlegung von Schulbibliotheken, Ausdünnung des Busliniennetzes. Es wird gekürzt, abgebaut und gestrichen, und trotzdem ist kein Land in Sicht. Durch die Fremdbestimmung sitzen die Städte in einer Vergeblichkeitsfalle.

Diese Tatsachen sind längst keine Kleinigkeiten mehr. Sie gehören auf der politischen Agenda ganz nach oben. Sie gehören in eine Sondersitzung des Bundestages. Sie sollten 2013 Wahlkampfthema werden. Und damit endlich Fakten geschaffen werden, braucht es einen konkreten Rettungsplan. Darin müsste über eine Änderung des Grundgesetzes die Abhängigkeit von Berlin gelockert und als erste Maßnahme der Solidarpakt Ost aufgekündigt und eingetauscht werden gegen ein generelles „Notopfer Stadt“. Das würde Hilfen nach Bedürftigkeit verteilen und nicht mehr nach Himmelsrichtung.

Um sich über die Konsequenzen der Fremdbestimmtheit und der daraus folgenden Schuldenkrise nicht nur in den eigenen Amtsfluren zu ärgern, sondern sie in die Sichtbarkeit zu bringen, entschlossen sich rheinische und oberbergische Oberbürgermeister und Kämmerer in den letzten Jahren zweimal, parteiübergreifend vor dem Reichstag zu protestieren. Nach dem letzten Ungehorsam sollten Fachgespräche mit den finanz- und kommunalpolitischen Sprechern der Bundestagsfraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis90/Die Grünen, FDP und Linkspartei geführt werden. Was passierte? Einige Fraktionen wollten die Vertreter erst gar nicht empfangen.

Andere hatten gerade mal eine Stunde Zeit. Und die Abgeordneten, die sich auf eine Auseinandersetzung einließen, zeigten sich mitunter von erschreckender Unkenntnis und einzigartigem Unverständnis. Die Vertreter der Kommunen verließen Berlin weitaus frustrierter, als sie in die Hauptstadt gekommen waren. Niemals war man davon ausgegangen, dass die politische Kaste, die es in den Reichstag geschafft hat, sich derart abgehoben präsentieren würde. Städte und Gemeinden leiden unter einem eklatanten Auseinanderdriften von Verfassungsidee und Verfassungswirklichkeit. Sofern das die Volksvertreter nicht erkennen, ist Bundespräsident Joachim Gauck dazu aufgefordert, seine Unteschrift unter weitere Gesetze zu verweigern, die ganz offenbar den Städten schaden.

Es eilt. Es brennt. Trotzdem ist das Städtesterben eines der meist unterschätzten Probleme der Bundesrepublik. Es ist nicht nur ein Thema, durch das Wahlen entschieden werden können, sofern man es ignoriert. Viel schlimmer: Es lässt soziale Brennpunkte zum Flächenbrand werden, koppelt ganze Quartiere von der Entwicklung ab und lässt damit Radikale in Erscheinung treten, die sich die Not der Vergessenen und Verzichtbaren zunutze machen.

Solange sich in Berlin nichts tut und man in den Kommunen auch nicht mehr mit dem Bewusstsein einer neuen Bescheidenheit weiterkommt, wird es auch und gerade an den Menschen in den Städten liegen, den nötigen Druck zu entfachen. Es wäre ein Druck, der die Zeit eines modernen Heimatkampfes einläuten würde. Die Leute gingen auf die Straßen und Plätze ihrer zerfallenen Städte, sie würden vorbeiziehen an den geschlossenen Jugendtreffs, den verlassenen Ladenlokalen, an den verdreckten Quartieren, an den Wohnungen der vereinsamten Rentner, an den Plätzen, wo inzwischen die Neonazis das Regiment führen, und dabei könnten sie den Slogan auf ihre Schilder schreiben, die die Occupy-Bewegung so populär gemacht hat: „We are the 99 percent!“ Wir sind die 99 Prozent! Und wir lassen uns nicht länger von dem einen Prozent Regierender unseren Lebensraum kaputt machen!

Nur: Drücken die lokalen Probleme möglicherweise noch zu wenig auf Portemonnaie und Seele? In Leverkusen wurde aufgrund der Schuldenlage die Grundsteuer, für die jeder Bürger – ob Mieter oder Eigentümer – aufkommen muss, von 2010 auf 2011 um satte 18 Prozent erhöht. Eigentlich eine spürbare Belastung. Der große Aufschrei blieb aus. Warum? Eine Stadt, ein Bundesland, eine Republik kann sich angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Schieflage ein solches Stillhalten eigentlich nicht mehr leisten.

Buchtipp:
Martin Häusler hat mit seinem Vater, dem Leverkusener Stadtkämmerer Rainer Häusler, gerade im Europa Verlag das Buch „Deutschland stirbt im Westen“ veröffentlicht. Mit der Streitschrift zur Rettung der Städte in NRW (und inzwischen auch in anderen westlichen Bundesländern) verbinden die Autoren einen 11-Punkte-Rettungsplan.

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Eine Antwort auf Städtesterben: Zeit für einen neuen Heimatkampf

  1. Sven sagt:

    Enorm wichtig und verdienstvoll, dass dieses fürwahr brennende Thema so kompetent auf den Punkt gebracht wird. Die Analyse der rasanten Verarmung der öffentlichen Hände könnte allerdings noch früher ansetzen – bei der gewissenlosen Verschleuderung öffentlichen Eigentums durch eine Privatisierung, deren angeblicher finanzieller Reiz sich auch und gerade für die Kommunen nur allzu oft als fiskalisches Desaster entpuppt hat. Oder bei der durch Steuer-”Reformen” angeheizten Bereicherung weniger Vermögender zu Lasten der vielen Normalverdiener und damit letztlich auch der öffentlichen Hände. Oder bei dem systematischen Abbau von Sozialstaat und öffentlicher Wohlfahrt, was sich auch und gerade in den Kommunen manifestiert, die damit zu den Opfern der immer noch herrschenden neoliberalen Ideologie zählen.
    Wer wie etwa die FDP – aber beleibe nicht nur die – unter dem dümmlichen Schlagwort “weniger Staat” dessen Kassen plündert, vernichtet unsere Kommunen und damit unser gesamtes Gemeinwesen. Herr werden wird man dieser Probleme erst, wenn man sie wirklich bei ihren systemischen Wurzeln packt.