Sozialarbeiter – „Schmierfett“ der Gesellschaft

Von Tim Schumacher

Als die Gewalt in England eskalierte, die sogenannten Riots, fragten hier alle, ob so etwas auch bei uns passieren könnte. Hat damals jemand Sozialarbeiter gefragt? Natürlich nicht! Mit meinen Kollegen bin ich einer Meinung: Unter der Oberfläche brodelt es bei weitem mehr, als die Öffentlichkeit wissen möchte. Genau deshalb werden wir auch nicht gefragt – clever!
Ich bin seit etwa 15 Jahren als Diplomsozialpädagoge und Sozialarbeiter in der Sozialen Arbeit tätig und habe verschiedene Berufsfelder kennengelernt. Ich hatte das Pech, direkt in der Zeit des Niedergangs der Sozialen Arbeit in diese Profession geraten zu sein (Ökonomisierung, Kolonialisierung durch das System, etc.).
Meine Eltern, beide seit über 25 Jahren Erzieher im öffentlichen Dienst, konnten vernünftig von ihrem Gehalt leben (Hauskauf, abbezahlt bis zur Rente, hoher Lebensstandart, keine Angst vorm Alter). Den ökonomischen Druck freilich haben auch sie gespürt, ähnlich einer Schraubzwinge, die immer fester zugreift – stressbedingte Krankheiten inklusive. Aber, sie haben es geschafft.

Ich habe dagegen nun nach etwa 15 Jahren in der Sozialen Arbeit meinen ersten unbefristeten Anstellungsvertrag bekommen und arbeite seit 2 Jahren bei einem kleinen, etwas sozialistisch geprägten Bildungsträger im Berliner Wedding. Hier im Soldiner Kiez habe ich auch schon fünf Jahre gelebt, in der Koloniestraße. In Berlin gilt diese Gegend als berüchtigt. Noch vor wenigen Jahren haben sich Gangmitglieder dieser überwiegend durch Menschen mit arabischen Hintergrund geprägten Wohngegend auf offener Straße erschossen. Raub und Mord standen auf der Tagesordnung.

Das Projekt “Soziale Stadt” brachte den Wandel. Die intensive Betreuung des Stadtteils zeitigte Erfolge, das scharfe Eingreifen der Polizei zerstreute die Banden (Die meisten Anführer mussten lange Haftstrafen verbüßen). Der Kiez war im Aufbau, als ich dort hin zog. Etwa 2 Jahre arbeitete ich als Schulsozialarbeiter im Wedding an der Theodor-Plivier-Oberschule und der Oberschule-Am-Brunnenplatz – bei beiden Schule auf einer vollen Stelle. Diese Schulen waren in großen Schwierigkeiten, ähnlich der bekannt gewordenen Neuköllner Rütlischule damals, aber eigentlich geht es fast allen Oberschulen ähnlich, zumindest in den Problemvierteln.

Dort lernt man nicht mehr, man kämpft die ganze Zeit: um Geduld, um Aufmerksamkeit, um Anerkennung, um Ruhe – ein ewiger Kampf. Die Lehrer sind erschöpft, viele von ihnen methodisch und didaktisch total überfordert mit dieser Art von Schülerschaft. Sie sind zu wenige, und von den wenigen werden viele auch noch stressbedingt krank. Der Rest kämpft meist verbissen ums Überleben – mangelnder Respekt vor den Lehrern bis hin zu offenen Drohungen, Erpressung, Dealerei, Gewalt auf dem Schulhof und die bei den Schülern weit verbreitete ist Neigung zur Schulverweigerung. Etliche verlassen die Schulen ohne Abschluss.

Nach der Schulsozialarbeit übernahm ich mit einer Kollegin ein Jugendzentrum am der Ecke Kolonie-/Soldiner Straße. Jugendbanden hatten das Jugendzentrum, das ehemals unter staatlicher Trägerschaft stand, gesprengt. Die Sozialarbeiter kamen mit den massiven Gewaltübergriffen und dem Druck durch die Gangs nicht klar, verließen nach und nach das Jugendzentrum, bis es ganz geschlossen wurde und nun in freie Trägerschaft übergehen sollte.

Mein damaliger Träger gewann die Ausschreibung. Die ehemals 5 Vollzeitstellen schrumpften auf zwei Stellen zu je 30 Wochenstunden zusammen. Diese wurden mit rund 1250 Euro brutto vergütet. Unser Träger hingegen konnte bei diesem Geschäft wunderbare Gewinne einstreichen. Er darf als gemeinnütziger Träger zwar keine Gewinne auszuschütten, aber er darf erzielte Überschüsse reinvestieren. Dieser Träger kauft sich z.B. gerne Gebäude und bezahlt seine höchsten Angestellten in der Etappe bei weitem nicht so mies wie seine Mitarbeiter an der Front. Das, so habe ich gelernt, nennt man Sozial-Management! Ich musste mich von diesem Träger nach kurzer Zeit trennen, obwohl mir die Arbeit in meinem “eigenen” Jugendclub sehr gefiel. Doch das Gehalt sank immer weiter, es wurde immer stärker eingespart und gepresst. Da habe ich dann irgendwann aufgegeben und bin gegangen.

Nun bin ich bei dem eingangs erwähnten Bildungsträger, immer noch im Kiez und immer noch gerne im Wedding. Allerdings wohne ich dort nicht mehr, dort wurde es meiner Freundin doch zu unheimlich. Nachts mit der U-Bahn und durch (kaputtgesparte) dunkle Straßen? In manchen Berliner Vierteln ist das ein Risiko.

Mein Träger bewirbt sich sowohl auf Ausschreibungen für Maßnahmen des Jobcenters, als auch um Projekte des ESF (Europäischer Sozial Fond). Das sind unsere Hauptarbeitsfelder: Eine Hälfte des Teams betreut und qualifiziert Erwachsene, ich mit der anderen Hälfte betreue und schule Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahren. Wir bereiten sie auf die externen Schulprüfungen der Stadt Berlin vor, bei denen sie den einfachen und erweiterten Hauptschulabschluss, sowie den mittleren Schulabschluss mit einer staatlichen Prüfung nachholen können. Die meisten haben keinen, oder einen sehr schlechten Hauptschulabschluss, aber es gibt auch viele, die hier bei uns auf den mittleren Abschluss hinarbeiten.

Wie betreuen die absoluten „Knaller“ – oft Jugendliche, die kaum eine Schule von innen gesehen haben; oft mehrfach vorbestraft, manche auf Freigang. Wir arbeiten mit der Jugendgerichtshilfe, dem Jobcenter, dem Jugendamt und diversen anderen Trägern sozialer Dienste zusammen und stehen bei Bedarf auch mit den Sozialarbeitern im Gefängnis, den Eltern der Jugendlichen oder deren Anwälten in Kontakt. Wir rufen im Notfall die Härtefallkommission an, begleiten die jungen Menschen zur Ausländerbehörde oder ins Gericht. Wir sind ein Team überwiegend aus Sozialarbeitern und Lehrern.

Wir sind ein gutes Beispiel dafür, dass ein Träger, der seine Angestellten gut behandelt und Teams mit Bedacht und unter Einbindung der Mitarbeiter bildet, auch großen Erfolg bei der Arbeit haben kann. Dennoch: Trotz aller Erfolge, trotz des guten Klimas bei der Arbeit, sehen wir, die an der Basis dieser gesellschaftlichen Pathologien arbeiten, den Abgrund genau, auf den wir zurasen. Die soziale Arbeit unserer Zeit wurde von einem Kollegen auf den Punkt gebracht: “Wir sind das Schmierfett der Gesellschaft”. Klingt banal, aber wenn man länger drüber nachdenkt…

Während meiner “Karriere” in der Sozialarbeit hat sich diese, ähnlich wie unsere ganze Gesellschaft, auf bizarre Art verändert. Gerade als sich die Profession als “Sozialarbeitswissenschaft” eine eigene handlungswissenschaftliche Disziplin schaffen wollte, kam die Ökonomisierung mit Neusprech und normierten Beobachtungsbögen. Mensch, mehre deinen Nutzwert. Der Staat übergab seine Einrichtungen und Aufgaben nun an freie Träger der Wohlfahrtshilfe. Die “Alteingesessenen” AWO, CARITAS; DIAKONIE; usw. wurden nervös. Schnell kroch der Kapitalismus in alle Ecken und die angedachte, anregende “Trägervielfalt” verkam zu großen Monopolen. Korruption und Veruntreuung, wohin man auch schaut.

Der kleine Mitarbeiter in diesem “Sozial-Management Betrieb” wird mit unangemessenen Löhnen ausgebeutet und kann praktisch zu keiner Zeit den Idealen der professionellen Sozialarbeit gerecht werden, obwohl vor noch gar nicht so langer Zeit, das “Jahrhundert der sozialen Arbeit” ausgerufen wurde. Wir hatten damals die Chance, eine echte Wissenschaft zu werden mit eigener Ethik, einem eigenen Forschungsgegenstand und der Definitionshoheit für unsere Profession. Nichts davon ist geblieben. Die getroffenen Positionsbestimmungen der akademischen Impulsgeber haben uns an das Monster einer “effizienz-gesteigerten” Wohlfahrtshilfe verraten.

Nun sind wir für “soziale Probleme” zuständig und was ein “soziales Problem” ist, das sagt uns der Staat. Der gleiche Staat, dasselbe System, das unsere “Klienten” zu Hauf ins Unglück drängt, beauftragt uns nun, sie zu ”disziplinieren”, sie auf “Kurs” zu bringen, “fit” zu machen. Nach Menschenwürde, Menschlichkeit und Empathie in unserer Arbeit fragt keiner. Bezahlt wird nach “Fallzahlen”. Wir sind das Schmierfett der Gesellschaft.

Unsere Aufgabe ist es den sozialen Frieden, den “Status Quo” aufrecht zu erhalten. Wenn dabei auch noch ein paar “verwertbare” Individuen rauskommen, umso besser. Da der Sozialarbeiter, ebenso wie der Pfleger oder Erzieher, keine “Waren” produziert, die sich am Markt, dem Fetisch unserer Zeit, verkaufen lassen, hat auch der Sozialarbeiter, Erzieher, Pfleger selber keinen Wert – ganz im Gegenteil: Er ist potentiell gefährlich.

Würde er sich nämlich auf das besinnen, was unsere Profession im Kern eigentlich ausmacht, stieße er auf die altruistisch,humanistischen Wurzeln der sozialen Arbeit, die grandiose theoretische Aufbauarbeit unserer Vordenker, nicht nur aus den Bezugswissenschaften der Soziologie und Philosophie, sondern auch aus unserer eigener Profession (z.B. die Lebensweltorientierung sozialer Arbeit nach Thiersch). Würden wir all das, was uns in diese neue, aufregende Wissenschaft mitgegeben hat, verstehen und umsetzen, wären wir eine echte Gefahr für die etablierten Verhältnisse.

Wir wären Kämpfer für eine lebenswerte “Lebenswelt”. Wir würden zusammen mit der Soziologie (Protosoziologie) das destruktive Wirken des “Systems” auf die Lebenswelt untersuchen, dokumentieren. Wir wären auf der Seite der Menschen, die unter diesem System leiden. Wir würden uns organisieren, politisch wirken, öffentlich Stellung beziehen, nachhaltig und ganzheitlich arbeiten und forschen. Wir würden zu Chefanklägern dieses menschenverachtenden Systems. Denn wir sind es, die ganz nah bei den Menschen sind und all das “erleben”, was diese erleben und erleiden.

Doch all das ist bislang leider Utopie geblieben. Noch sind wir nur das Schmierfett der Gesellschaft.
Wenn wir uns gegen diese Instrumentalisierung nicht wehren, scheitern wir als Professionelle und als Menschen. Und ich möchte nicht als Schmierfett enden.

(Dieser Beitrag wurde übernommen von den NachDenkSeiten)

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Eine Antwort auf Sozialarbeiter – „Schmierfett“ der Gesellschaft

  1. Brandie sagt:

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