Sind Krisen mehr als temporäre Schrecken?

Von Paul Sailer-Wlasits

Was verbirgt sich hinter den gegenwärtig scheinbar nicht enden wollenden Krisen? Den ökonomischen und soziopolitischen Krisen der Mittelmeerstaaten Europas und Nordafrikas, der Krise des europäischen Finanzsystems oder jener der Bildungsmisere einer gesamten Generation? Begegnen uns diese Krisen und Katastrophen nur als das, was sie sind? Abweichungen vom sogenannten Normalzustand, temporäre Schrecklichkeiten, weiter nichts? Oder verbirgt sich hinter der Bezeichnung Krise, auf deren Bedeutung wir uns aus sprachlicher Konvention geeinigt haben, vielleicht gar eine Metapher? Eine Metapher, die den Begriff der Krise auf ein ganz anderes, viel abgründigeres und wesentlich furchterregenderes Phänomen verweisen läßt? Der Reihe nach: Schwere Krisen gibt es seit Jahrtausenden nahezu unendlich viele, von der Krise der Gesellschaft ist periodisch wiederkehrend die Rede, von Zeit zu Zeit dominiert jene der Wirtschaft, danach geraten abwechselnd Politik und Kultur in die Krise, vorübergehend werden die Krisen der Kirche oder der Umwelt virulent. Krisen und Katastrophen, die je nach Opportunität stilisiert, beschworen und damit sprachlich verstärkt, angeheizt oder oftmals überhaupt erst medial erzeugt werden. Aufgrund der schieren Häufigkeit ihrer Anwendungsfälle vermeinen wir, die Krisen nicht nur zu kennen und zu erkennen, sobald wir ihnen begegnen, sondern auch noch, sie in ihrer Substanz zu verstehen. Doch selbst wenn wir bereits wiederholt auf der einen oder anderen Ebene unserer Lebenswirklichkeit auf Krisen und Katastrophen gestoßen sind, haben wir nur durch diese Begegnungen alleine noch nicht verstanden, was Krisen ihrem Wesen nach sind. Wovon die Rede ist, wenn wir von Krisen sprechen. Was, wenn die Krise als Krise gar kein Phänomen im klassischen Sinne, sondern primär die metaphorische Beschreibung eins Symptoms darstellt? Jenes Symptoms, das erst dann entsteht, wenn wir vom verstörenden Eigentlichen der Angst ablenken, welches sich plötzlich in die Mitte unseres Daseins reklamiert. Falls dies zutrifft, existieren Krisen nicht als Phänomene, sondern als unsere Versuche, um mithilfe der Metapher der Krise die menschliche Hinfälligkeit verbal zu rationalisieren: die Krise als Beschwörung der Angst.

krísis als Sprach-Ausweg

Eine kurze Begriffsbestimmung soll zunächst der Vielgestaltigkeit des Terminus Krise einen Rahmen geben: Das altgriechische Nomen krísis bzw. sein Verb krínein umfasste einerseits die Bereiche des Sichtens, Unterscheidens und Trennens und andererseits die Aspekte des Entscheidens, Beurteilens, ja sogar des Verurteilens. Eine krísis eröffnete die Möglichkeiten für einen sprachlichen Weg, auf dem eine Ansicht bestätigt, oder ein Unterschied, bzw. das Unterschiedene selbst sichtbar gemacht werden konnte. Der sprachliche Fortgang vermochte allmählich zu einer bestimmten Seite zu tendieren, oder aber an einem Wendepunkt in seine Gegenrichtung, in sein schieres Gegenteil umzuschlagen. In dieser Hinsicht hatte jener, der die Krise beim Wort nahm, stets die sprichwörtliche Qual der Wahl, sich nach dem Sichten der Fakten für die eine oder die andere Seite zu entscheiden, denn Urteile wollten immer schon gefällt werden.

Die Zuspitzung einer bestimmten Situation oder Entwicklung ist das, was als offensichtlichstes Symptom der Krise zum Ausdruck kommt und erkennbar wird. Das Symptom manifestiert sich jedoch stets als Wirkung, niemals als Ursache. Daher deutet und verweist es lediglich auf die Ursache, so wie eine Metapher auf das mit ihr Gemeinte verweist. Das Symptom macht den Bezug sprachlich und wirkungspsychologisch nachvollziehbar. Das auf die Spitze Treiben einer Entwicklung verfolgt jedoch von Anfang an ein anderes, ein der eigenen Entwicklungsrichtung gegenläufiges Ziel: jenes, dass der gegenwärtige Zustand bzw. Verlauf der gerade stattfindenden Entwicklung sich teilweise oder zur Gänze ändern möge. So zielt etwa die revolutionäre Beschleunigung einer politischen Entwicklung nicht auf die Festigung des Status quo, sondern auf dessen Beseitigung. Sobald jede Alternative besser erscheint, als der Status quo, wird seine Beseitigung mit der Verurteilung der ihn hervorgebracht habenden Konstellation Hand in Hand gehen. Mit dem Urteilsspruch, der krísis hinsichtlich der, um bei dem genannten Beispiel zu bleiben, vorrevolutionären Verhältnisse, kann sowohl das auf die Spitze Treiben als auch die finale Überwindung der Zuspitzung selbst im Nachhinein legitimiert werden.

Krise meint Furcht und beschwört Angst

Der Begriff der Krise ist im Laufe von über zwei Jahrtausenden zur Metapher geworden und erfüllt heute nur noch eine sprachliche Stellvertreterfunktion, für die er ursprünglich weder vorgesehen noch geeignet war. Denn wir sprechen von Krisen und meinen die Furcht, wir beschwören die Krisen und meinen die Angst. Krisen im Außen sind leichter zu rationalisieren, als das ihnen zugrundeliegende Phänomen der Angst. Krisen versprechen Auswege, sie lähmen nicht, doch das Phänomen der Angst bewirkt dies mit Leichtigkeit. Als Moment der beflügelnden Irritation wirkt die Krise als Krise im künstlerischen und wissenschaftlichen Bereich in der Gestalt schöpferisch treibender Kraft.

Die Grundbefindlichkeiten von Furcht und Angst, in all ihren Facetten und Ausprägungen, aber vor allem in ihrer Abgründigkeit, sind jenes, woraus sich das sprachliche Symptom, dem wir die Bezeichnung Krise verliehen haben, nährt. Auf den Grundbefindlichkeiten von Furcht und Angst baut die Krise und mit ihr die Metapher der Krise auf: Sie beunruhigt, erschüttert das Vertrauen, nimmt die Ruhe. Sie verunsichert und verstört, weil sie den Status quo fundamental infrage stellt und diesen auch nicht bloß temporär oder punktuell, sondern systematisch zu transformieren droht. Dadurch ist sie jedenfalls in der Lage, die gewohnte Ordnung nachhaltig, oft sogar irreversibel zu verändern oder zu zerstören.

Die Metapher der Krise tritt unserer Anschauung zunächst nur als Symptom entgegen, und wie alle Therapieversuche von Symptomen, sind auch die Krisentherapien wenig wirkungsvoll, wenn sie nicht an der Wurzel, in unserem sprachlichen Fall an der Wurzel des Wortes, an seiner Wesensherkunft ansetzen. Erst eine Therapie von zugrunde liegenden Ursachen löscht deren Wirkungen aus. Die Krise bringt als oberflächliches, temporäres und flüchtiges Symptom sowohl die Ebene der konkreten Furcht als auch die Ebene der diffusen Angst zum Vorschein. Ohne die philosophische Fundierung der Strukturganzheit des Daseins ausführlich zu bemühen, sei zumindest festgehalten, dass der Begriff der Krise niemals auch nur im Entferntesten die Tiefe einer die Angst ontologisch fundierenden Sorge erreicht oder gar berührt. In diesem Sinne sind etwa die Geisteswissenschaften aufgrund ihrer ständigen Anwesenheit im innersten Kreis der krísis zumeist krisenfest. Sie sind krisenerprobt und gegenüber profanen Krisensymptomen immun; und sie sind es sogar dann, wenn ihnen selbst unaufhörlich letale Krisen attestiert bzw. prophezeit werden.

Die Metapher lässt zweifeln, statt zu vertrauen

Sprechen wir von Krisen, so befinden wir uns zwischen den verbalen Mühlsteinen konkreter Furcht und diffuser Angst. Wir ängstigen uns vor dem, was als kommendes Unheil droht, was zeitlich herannaht, vor dem, „was uns überfällt und sich unser bemächtigt“, wie Emmanuel Lévinas formulierte. Sobald wir die Metapher der Krise benützen, zweifeln wir, anstatt zu vertrauen. Der Blick in und auf die Zukunft wird von der, trotz immenser Abnutzung immer noch höchst wirksamen, Metapher der Krise verstellt. Denn gerade diese Metapher zählt zu den sprachlich am stärksten abgenutzten und am meisten abgeschliffenen. Der Blick auf alles Zukünftige müsse aufgrund der Krise erst wieder mühsam freigelegt werden. Sobald alle Krisensymptome überwunden wären, sei auch die Krise beseitigt: Dieser Trugschluss endet, auf einem allzu voreiligen Urteil gründend, oftmals in einer neuen Krise. Denn der Wunsch nach rascher Krisenbeseitigung dominiert das symptomatische Denken, wodurch sich jede andere, jede neu hinzukommende Katastrophe letztlich nur als Fortsetzung der alten Angst entpuppt.

Sobald wir jedoch, ohne den Begriff der Krise zu verwenden, von unserer Zukunft sprechen, hoffen wir, eine kommende Chance ergreifen zu können. Und auch die Bezeichnung Chance ist eine Metapher, eine Metapher des Erwartens. Denn der Begriff des Erwartens bedeutet nicht das Warten auf ein bestimmtes Eintreten, sondern das Hereinnehmen der Zukunft in die Gegenwart, in gewisser Weise also eine Vorwegnahme günstiger Ereignisse. Und obwohl wir wissen, dass in der Gegenwart niemals das Äquivalent der Zukunft gefunden werden kann, halten wir uns stets in dieser Möglichkeit – auch Hoffnung genannt – weil sie bereits unsere Gegenwart mit tröstender Wirkung erfüllt. Derartige Hoffnungen und Verheißungen von fundamentalen, absoluten Krisenbewältigungen stellen tragende Argumente der großen Weltreligionen dar. Mit der temporären Vorwegnahme des Trostes in der Form von Hoffnung vermeinen wir dem, was wir Krise nennen, besser begegnen zu können, den Krisen zu trotzen.

Rettung Revolution?

Die Mobilisierung ungeahnter Kräfte im Angesicht der schwersten Bedrohung stellt ein Charakteristikum des Prozesses der Zuspitzung dar. Erst im Zustand äußerster Anspannung, im Angesicht größter Gefahr, werden Dinge verwirklicht, die davor undurchführbar erschienen. Dass aus bestehender Angst oder aus den Triebkräften des zugrunde liegenden Negativen auch Positives resultieren kann, zeigt das bekannte faustische Diktum – „jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“.

Politische und wirtschaftliche Systeme, welche bereits schwere Deformationen in sich tragen, werden durch ihre eigenen, inneren Krisen hinweggerafft; sie sterben aufgrund ihrer inneren Zuspitzungen, die zunächst an ihrer Substanz zehren, um sie letztendlich zu vernichten. In diesem Sinne sind gesellschaftliche Revolutionen Zuspitzungen, deren Übersteigerungen zu Transformationen führen müssen, unabhängig davon, ob die erzielten Resultate von der Geschichte positiv oder negativ bewertet werden. Ob eine erfolgte Revolution als rettende Krise, als reinigendes Gewitter, oder als Schritt vom Regen in die Traufe wahrgenommen wird, bleibt grundsätzlich dem Urteilenden überantwortet. Die politische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts hat auf schmerzhafte Weise gezeigt, dass nach wie vor eine gefährliche Tendenz dazu besteht, dass länger anhaltende Ungleichgewichte in Form gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Instabilität autoritäre Strukturen tendenziell an Einfluss gewinnen lassen, da diese stets in das erzeugte oder hinterlassene Vakuum einzudringen gewillt sind.

Im Danach der Krise, in der Ordnung der Welt nach der Instabilität, liegt mehr als nur pauschal formulierte Hoffnung, mehr als nur ein neutrales Verweisen auf Kommendes. Es liegt darin ein besonderes Verweisen, das seinerseits auf ein Ziel, auf einen Zweck und auf einen Sinn deutet. Das Ende eines entindividualisierten Zustandes kommt allmählich in Sicht und jene Argumente, welche die Krise stets als Chance für einen Wendepunkt bezeichneten haben – so vermeinen wir denken zu sollen – behalten letztlich die Oberhand. In einer unserer ältesten Prophetien (Jesaja 30, 15-16) findet sich eine gütige Aufforderung samt drohender Warnung: „Durch Umkehr und durch Ruhe werdet ihr gerettet. In Stillsein und in Vertrauen ist eure Stärke.“ Diese Aufforderung beinhaltet drei Metaphern: Es gibt eine Chance, die Krise zu bewältigen: durch Umkehr.

Politikblog debattiersalon | Buchtitel: Paul Sailer-Wlasits VerbalradikalismusPaul Sailer-Wlasits ist Philosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Der 1964 geborene Sprachphilosoph veröffentlichte zuletzt das Buch „Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens“ im Verlag Edition VA bENE. Er analysiert darin die Verstrickung von politischer Macht und Sprache.

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