Rhetorischer Schein: Wahrheit und Lüge in der Politik

Von Paul Sailer-Wlasits

Jedes Bemühen zu erkennen, jede Suche nach Erkenntnis, ist eine Suche nach Wahrheit. Nach der einem Gegenstand innewohnenden Wahrheit, nach dem, was sein Wesen ausmacht. Das politische Bemühen stellt kein Streben nach Erkenntnis dar, es soll nicht primär etwas erkannt werden. Es soll ein Diskurs erzeugt und in Gang gesetzt werden, dem eine gesellschaftliche Mehrheit gewillt ist, zuzustimmen. Politik ist nicht von der Verpflichtung zur Wahrheit gekennzeichnet, sondern von Verhältnissen der Zustimmung und Vereinbarung nach der Art eines Gesellschaftsvertrages. Unter dem Begriff Politik werden sämtliche gesellschaftlich relevanten Inhalte und Interaktionen subsumierbar. Subsumption bedeutet immer auch Unterordnung, einordnende Gruppierung und wertende Kategorisierung ungleicher Ideen, Personen oder Gegenstände. Ungleiche Inhalte unter einen Begriff zu zwängen meint, diese nicht ihrem Wesen und Sinn nach zu ordnen, sondern nach ihrem Zweck und gemäß ihrer Nützlichkeit. Dies ist ein Kern politischer Übereinkunft, eine erste paradigmatische Konvention, nicht der Wahrheit, sondern dem Zweck verpflichtet zu sein.

Die politische Sprache, die Sprache der Politik und die Sprache in der Politik (nicht die Sprache der Politikwissenschaft) ist keine Fachsprache, sondern eine Zwecksprache, zusammengesetzt aus mehreren Formen wissenschaftlicher und alltagssprachlicher Diskurse. Eine der Voraussetzungen für den wirkungspsychologischen Erfolg der Sprache in der Politik, zum Zweck der Gewinnung von Mehrheiten, liegt in ihrem Mangel an Präzision, ihren Subsumierungen und Schematisierungen. Der rhetorische Effekt dominiert die Debatte zum Preis herabgesetzter Differenziertheit, in der Hoffnung, dass die Simplifikation und Uneindeutigkeit zu genau jener Mehrdeutigkeit und zu jenem Identifikationsraum führt, in welchem eine gesellschaftliche Mehrheit bereit ist, sich einzurichten. Mittels semantischer Konvention werden Zusammenhänge nicht nach deren Wahrheitsgehalt, nach deren Anspruch auf Wahrhaftigkeit, sondern nach deren Zweck und nach Opportunität sprachlich in die Erscheinung gebracht.

Politik-Images sind keine Metaphern – sondern unwahr

Die Forderung, das im politischen Diskurs Gesagte solle nicht seinem Wesen nach denkend vorgestellt werden, sondern seinem Zweck nach, bedeutet, ein vom Wesen der Gegenstände abweichendes Bild soll vorgestellt werden. Dieses divergierende Bild, mit euphemistischer Intention positiv Image genannt, ist jedoch kein Abbild, sondern ein erzeugtes, gesteuertes, vom Wesen und damit von der Wahrheit abweichendes Bild. Von der Wahrheit abweichende Bilder sind keine Metaphern, sondern Unwahrheiten. Images unterliegen der Veränderung, Images werden besser oder schlechter, müssen poliert und aufgebessert werden, wie dies bei Parteien, politischen Programmen oder Personen der Fall ist. Wahrheiten sind unveränderlich. Wahrheiten haben während Wahlkämpfen kaum Konjunktur, da es nicht um sie geht, sondern um Images, um den wirkungspsychologischen Effekt, um den Zweck des Erreichens und des Habhaft-Werdens des gesunden Menschenverstandes einer Mehrheit. Hannah Arendt sprach von Prestigepotenzial, das in der Politik längst an die Stelle des inhaltlichen, ideologischen Argumentes getreten sei. Noch früher nannte man das Image auch Ruhm, Ehre und Ansehen. Worte, die im gegenwärtigen Sprachgebrauch ins Hintertreffen geraten sind.

Wenn Platon die Lüge der Staatsführer zum Wohle des Staates und seiner Bürger nur in Ausnahmefällen – etwa als Täuschung der Beherrschten zu deren Schutz – ausdrücklich guthieß, wieso bedienen sich politische Führer heutiger Demokratien so schamlos dieses Mechanismus? Dass Betrug und Täuschung konstitutiv für die Diktaturen und Kaiserreiche des Imperium Romanum waren, dass die Lüge über Jahrhunderte im Kern der Absoluten Monarchien Europas angesiedelt war, ist historischer Konsens. Wieso aber hält sich die Lüge hartnäckig im Zentrum der gegenwärtigen Demokratien, jener Staaten, die sich die demokratischen Grundtugenden an ihre Fahnen geheftet haben? Die beständige Lüge im Innersten der Führungen jener Staaten, welche die gesamte Welt mit ihren demokratischen Errungenschaften beinahe schon auf indezente Weise belehren? Ist das Festhalten an der Lüge in der internationalen Spitzenpolitik nicht ein Abweichen vom Zivilisationsprozess?

Die Kulturgeschichte der Lüge hat von Platon über Augustinus und Kant bis Nietzsche eine vollständige Positionierung erfahren, Arendt, Derrida und andere haben Anmerkungen hinzugefügt. Doch in Zeiten politischer Auseinandersetzungen treten die vier Hauptgestalten der Lüge wie typologische Klassiker der vergangenen beiden Jahrtausende hervor:

Da ist zunächst die banale Unwahrheit der Aussage selbst, diese kann decouvriert werden, ihr kann entgegengetreten werden; Gegendarstellungen, Beweise, Aussagen gegen Aussagen folgen. Die Mehrheit der Wähler entscheidet aufgrund des Prestigepotenzials und wählt zumeist das erfolgreicher dargestellte Bild.

Das für wahr Gehaltene gewinnt die Polit-Show

Dann gibt es den unwahrhaftigen Sprecher. Dies betrifft den homo politicus als solchen. „Wer lügt, trägt etwas anderes im Sinn, als er ausspricht“, sagt Augustinus und entwirft die treffende Metapher vom doppelten Herzen des Lügners. Der unwahrhaftige Sprecher kann durch seine Lügen Schwerwiegendes verursachen, wie die politische Geschichte aller Jahrhunderte zeigt. Oder Konsequenzen, die letztlich nur auf die Person des Sprechers zurückfallen und damit auf seine Selbstreflexion schließen lassen.

Drastisch wird es im dritten Fall der Lüge in der Politik, wenn die Täuschungsabsicht des Sprechenden die Motivation für die Lüge ist. Während Kant diese in einem Aufsatz kategorisch verbietet und – konsequent, jedoch problematisch – nicht einmal im Notfall das Prinzip und Vernunftgebot der Wahrhaftigkeit aufgeweicht sehen will, fordert Machiavelli drei Jahrhunderte davor seinen Fürsten noch explizit zum Wortbruch auf, wenn dies nur opportun erscheine: Es reiche, so Machiavelli, für den Machterhalt völlig aus, sich redlich und wahrhaftig zu zeigen, denn, „Jeder sieht, was du scheinst, wenige fühlen, was du bist.“ Machiavellis Empfehlung, dass der rhetorische Schein ausreichend sei, hat gegenwärtig auch in den westlichen Demokratien endgültig über die Selbstverpflichtung zur Wahrhaftigkeit gesiegt. Der rhetorische Schein, das für wahr Gehaltene, nicht das Wahre gewinnt den Applaus in der Polit-Show. Das für wahr gehaltene Glaubwürdigere ist mehrheitsbeschaffend. In der politischen Diplomatie war und ist die Lüge, die Täuschung und das Erwecken des Anscheins ohnehin bereits seit der Antike konstitutiver Teil ihrer Technik, es verwundert daher nicht, dass sich heute bereits ein geradezu organisches Naheverhältnis zwischen Diplomatie und Spionage etabliert hat. Oder, wie Karl Kraus es während des Ersten Weltkrieges in anderem Kontext pointiert formulierte: „Diplomaten belügen Journalisten und glauben es, wenn sie’s lesen.“

Täuschungsabsichten entsprechen auch der Verachtung des Täuschenden gegenüber einem Belogenen. Diese Assoziation der Verachtung erscheint im Zusammenhang mit der Arroganz von Politikern und Parteien weder fremd noch neuartig. Politische Parteien eigneten sich im Laufe des Zwanzigsten Jahrhunderts die unangenehme Eigenschaft an, sich nicht demütig als pars, als dienender Teil des politischen Ganzen zu sehen, sondern als das Ganze. An jener Stelle, an der eine Partei beginnt, sich nicht mehr als Teil, sondern als das Ganze zu wähnen, ihre dienende Rolle zu verlassen und sich unbegründeter Weise zur Elite zu erklären, schleicht sich der Zweck der Täuschungsabsicht in den Diskurs ein. Dieser Zweck der Täuschungsabsicht stellt die vierte Säule der Lüge dar: Politiker und Regierungen entscheiden unilateral darüber, wie viel Wahrheit dem Wahlvolk zumutbar ist. Diese unilaterale Entscheidung stellt einen Angriff auf die Freiheit des Wahlvolkes selbst dar, dessen Unmündigkeit, dessen faktische Wahrheitsunverträglichkeit damit implizit unterstellt wird. Es ist ein Zeichen höchster Arroganz der Politik, dass das politische Establishment nichts Verwerfliches an seiner Erwartungshaltung findet, von der Mehrheit der zum Teil aktiv Desinformierten, Getäuschten und Belogenen wiedergewählt werden zu wollen.

Manipulation – der gute Ton des Wahlkampfs? 

Nicht zuletzt aus diesem Grund zählt auch das bloße Verschweigen der Wahrheit nicht zur tugendhaften Welt der Diskretion, sondern fällt gleichermaßen in das banale Reich der passiven Form der Lüge. Verschweigen, Verschleiern, Verzerren, falsche Versprechungen und Manipulation – die Liste ist fortsetzbar – zählen bereits zum gewohnten und aufgrund breiten Stillschweigens beinahe schon zum guten Ton der medialen Wahlkampfauseinandersetzung. Weil dem Belogenen a priori kein Recht auf Wahrheit zugestanden wird, weil der Belogene sein Recht auf Wahrheit nicht an sich geltend machen kann, haben sich zahllose Exponenten des öffentlichen Lebens bereits zur Lüge systematisch selbstlegitimiert. Das Vakuum, welches der Mangel eines expliziten Rechts auf Wahrheit hinterlässt, ist ein willkommener Freibrief für Wortbruch und Täuschung.

Nach wie vor bilden Politik und Lüge eine mésalliance, noch ist der politisch-kulturelle Zivilisationsprozess nicht an sein Ende gelangt. Es besteht daher Hoffnung auf Verbesserung. Nach den nächsten Wahlen. Oder vielleicht den danach folgenden. Denn die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit. Und sogar dieser Satz wird im politischen Diskurs als Relativierung der Wahrheit im Laufe der Zeit rhetorisch missbraucht, anstatt ihn so zu verstehen, wie er in den Attischen Nächten des Aulus Gellius vor mehr als 1800 Jahren gedacht war: „Mit der Zeit kommt die Wahrheit ans Licht.“

Endgültig im Bereich des Verbalradikalismus angesiedelt ist die von notorischen Lügnern oftmals verwendete Bezeichnung „Wahrheitsfanatiker“, so als hätte die Wahrheit auch nur im Entferntesten etwas mit der Glaubenswut des Fanatismus zu tun. Wahrheit ist niemals laut, schreiend oder schillernd. Doch wir wissen, wenn wir uns in ihrer Nähe befinden.

Paul Sailer-Wlasits ist Philosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Der 1964 Politikblog debattiersalon | Gastbeitrag | Buchcover Paul Sailer-Wlasits Verbalradikaligeborene Sprachphilosoph veröffentlichte zuletzt das Buch „Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens“ im Verlag EDITION VA bENE. Er analysiert darin, wie politische Macht und Sprache miteinander verstrickt sind.

Dieser Beitrag wurde unter Alle Artikel, Medien, Politik: Deutschland, STREIT-BAR abgelegt und mit , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort auf Rhetorischer Schein: Wahrheit und Lüge in der Politik

  1. Es ist mutig, auf die Wahrheit zu hoffen. Bei jüngsten Wahlerfolgen der Populisten (denen eine besondere Form der Wahrheit und Lüge zugrundeliegt) im Norden Europas wie auch bei uns im “Süden” bleibt mir da wenig Hoffnung.
    Ich denke, dass Veränderungen immer beim Konsumenten beginnen… blog.openmindfestival.at