Von Marion Kraske
Aufbruch! Das ist es, worum es dieser Tage in Hongkong geht. Wenn dort Zehntausende auf die Straße gehen und freie Wahlen fordern, nicht mehr aber eben auch nicht weniger als: Mehr Demokratie! Wenn sie sich den Schlagstöcken der Sicherheitskräfte entgegen stellen oder die Pfeffersprayattacken aushalten, die ihren Widerstand brechen sollen. Wenn sie klar machen, dass etwas gibt, das höher steht als die Regeln einer abgehoben agierenden, zynischen Staatsmacht.
Diese Bilder erinnern an jenen deutschen Aufbruch, der vor 25 Jahren im Fall der Berliner Mauer endete. Vor wenigen Tagen gedachte Deutschland der Wiedervereinigung vor einem Vierteljahrhundert. Deutschland gedachte vor allem auch jener Mutbürger, die gegen den piefigen „Arbeiter und Bauernstaat“ auf die Straße gingen, die Widerstand leisteten. Und ihr Rechtsempfinden gegen das Unrecht eines ganzen Staates durchzusetzen verstanden.
Dieses historische Verdienst würdigte Kanzlerin Merkel am Freitag in ihrer Rede zum Tag der Deutschen Einheit. Und sie erinnerte zurecht daran, dass es ohne das Aufbegehren gegen die DDR-Obrigkeit und die späteren diplomatischen und politischen Wegbereitungen die Vereinigung beider deutscher Staaten nicht gegeben. Das legitime Streben nach demokratischen Spielregeln, nach Grundrechten – es ging siegreich aus dieser Auseinandersetzung hervor.
Umso erstaunlicher, dass rechtzeitig zum Jahrestag der Einheit jüngst im Spiegel eine seltsam anmutende Ode auf die Bewahrung von Diktaturen veröffentlicht wurde. Das, was nach der Diktatur komme, sei häufig schlimmer als das Despotentum, so der Grundtenor des Beitrags. Nicht nur, dass die Autorin Vorgänge in Ex-Jugoslawien, Irak und Syrien wild durcheinander mischte, ohne die einzelnen Spezifika der Krisenherde zu berücksichtigen (die Passagen zum ehemaligen Jugoslawien strotzen nur so vor Unkenntnis über die komplexen Zusammenhänge im Zuge des Zerfalls des Vielvölkerreiches). Die krude Tirade mündete schließlich in der flapsig ausformulierten These: „Diktatur kann erträglicher sein als Anarchie. Wenn Menschen vor der Wahl zwischen einer funktionsfähigen Diktatur und dem Chaos eines scheiternden Staates stehen, wäre die Diktatur oft das kleinere Übel.“
Das kleinere Übel
Für wen Diktaturen erträglicher und oft das kleinere Übel sein sollen, erklärt die Autorin hingegen nicht. Für die Folteropfer etwa, die es in Diktaturen gerne zuhauf gibt, für die Weggesperrten, die politisch Inhaftierten? Alles ja nicht so schlimm, schließlich ist die funktionierende Ordnung (der Diktatur) allerhöchstes Gut? Da sicher und auf Dauer angelegt?
Und um so funktionierender und professionell betriebener diese (mörderische) Ordnung (umso höher also die Opferzahlen) – um so garantierter der Fortbestand dieser Ordnungsmacht Diktatur?
Es ist eine perfide Logik, die aus diesen Zeilen spricht. Was für ein überbordender Unsinn! Der Beitrag des Spiegel offenbart die intellektuelle Krise von Europas einstmals wichtigstem Nachrichtenmagazin in ihrer ganzen Tragweite. Lange Jahre galt der Spiegel als Flaggschiff (links)aufklärerischer Publizistik. Das ist vorbei, neben peinlichen Führungskapriolen leistet man sich heute fortgesetzt enttäuschende Inhaltsleere oder – und das zeigt das unreflektierte Diktatur-Geschwubel – neuerdings auch verquaste Rückwärtsgewandtheit.
Vergesst: Wir sind das Volk?
Denn was möchte die Autorin etwa den Protagonisten der Montagsdemos in Leipzig im Nachhinein zurufen: Ihr habt die schöne funktionierende DDR-Stabilität ins Wanken gebracht! Böse böse, das hätte ja auch verdammt schief gehen können. Und was sind schon Losungen wie „Wir sind das Volk“ gegen eine Politelite die klar macht: Die Macht, die Ordnung – das sind wir?
Und was würde die Autorin im Nachhinein wohl den Menschen vom Maidan raten? Bleibt schön zu Hause! Und gebt euch mit dem zufrieden, was ihr habt. Einen selbstherrlich agierenden Kleoptokraten vom Schlage eines Wiktor Janukowitsch, der den Staat offenbar regelrecht ausplünderte, inklusive?
Oder welche Weisheiten hält sie für den sich aktuell formierenden Bürgerprotest in Hongkong parat? Packt eure Regenschirme ein, geht nach Hause. Es lebe die Stabilität! Die Partei, die Partei – in diesem Falle die kommunistische in Peking – hat immer recht? Und als Trostpflaster die Losung: „Ordentliche“ Verhältnisse sind alle Male besser als die historische Gelegenheit, sich freie Wahlen zu erkämpfen – und damit die zementierte Ordnung ins Wanken zu bringen?
Diktatur kann erträglicher sein…. so das Spiegel-Mantra. Es stimmt, Anarchie und eine Phase der Unkontrollierbarkeit der Kräfte können folgen – aber sind sie nicht gleichzeitig auch Voraussetzung für eine neue, demokratische Ordnung, die sich nach diktatorischen Verhältnissen erst herausbilden muss? Ist nicht gerade in diesem Zusammenhang die Weltgemeinschaft gefragt, diese Funktionsfähigkeit nach politischen Umbrüchen wieder herzustellen und jenen Protagonisten des Demokratiestrebens zu assistieren, damit der Übergang von einem Unrechts- in ein Rechtssystem auch gelingen kann?
Demokratie als Prozess
Dies knüpft an eine grundlegende Überlegung an: Ist Demokratie nicht per se eher Prozess denn Status Quo? Musste nicht auch Deutschland nach dem unseligen und mörderischen NS-Terror mit Hilfe der Alliierten Demokratie erst einmal neu lernen, was es heißt, demokratisch zu sein? Die Errungenschaften dieses Prozesses stehen wie eine Mahnung im Grundgesetz: Die Würde des Menschen. Die Freiheit der Person. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Meinungsfreiheit. Pressefreiheit. Nicht zu vergessen: Das kostbare Gut der Versammlungsfreiheit.
Alle diese Grundrechte sind für uns heute eine Selbstverständlichkeit. Vor diesem Hintergrund, aus dieser Kuschelecke heraus zu erklären, das die Diktatur das kleinere Übel ist (als die unberechenbare Anarchie), reflektiert eine unerträglich selbstgefällige Haltung, die nur jenem einfallen kann, für den Demokratie und ihre Werte nichts Besonderes mehr sind. Diese Haltung wird den Lehren aus der deutschen Geschichte nicht gerecht. Und sie wird vor allem jenen nicht gerecht, die sich weltweit unter großen persönlichen Gefahren auf die Straße wagen, gegen Unterdrückung und Gewalt aufbegehren. Die Gleichheit und Freiheit einfordern. Denen Menschen- und Bürgerrechte über alles gehen. Schon gar über eine mörderische Ordnung.