Von Michael Kraske
Journalisten lieben die Piraten. Da können sie nach Herzenslust die plattesten Metaphern zusammenreimen: Sie lassen die neue Partei kentern und entern, Raubzüge in etablierten Revieren freibeutern und was nicht sonst noch alles. Hinter der verbalen Seefahrerromantik bleibt bislang völlig offen, was davon zu halten ist, dass eine Partei mit bruchstückhaften Programmfragmenten in Umfragen bundesweit mehr als fünf Prozent Sympathisanten findet.
Die Begeisterung für die „frische Attitüde“ ist zunächst mal Ausdruck für den Überdruss an einem Politikertyp, den die Daniel Bahrs und Christian Lindners verkörpern. Die sind jung, eloquent, rhetorisch geschult, allwissend, aber eben auch aalglatt und zum Verwechseln ähnlich. Es ist kein Zufall, dass der Höhenflug der Piraten einher geht mit dem Sturzflug der FDP. Das zur Schau gestellte Selbstbewusstsein der liberalen Politprofis steht in keinem Verhältnis zu dem, wofür sie stehen. Die Vokabeln „Eigenverantwortung“ und „Leistungsträger stärken“ münden seit Jahren in der immer gleichen Forderung nach Steuersenkungen für Reiche. Der Liberalismus in Deutschland leidet auch daran, dass seine wortgewaltig vorgetragene Einfalt von den Wählern als Mogelpackung durchschaut wird.
In dieses Vakuum haben sich die Piraten geschlichen. Mit der schnoddrigen Haltung, erst mal nicht mehr zu wollen als Freiheit im Netz und für Schwarzfahrer. Auch die Grünen wollten anfangs nicht mehr als Frieden und Umweltschutz. Im Windelalter ist es legitim, nicht auf alles eine Antwort zu haben. Die Piraten haben das Internet zu ihrer Kernkompetenz erhoben. Sie borgen sich von Wikileaks die Faszination der Enthüllung staatlicher Geheimniskrämerei. Das Wort Transparenz käuen die Piraten aber vorerst so floskelhaft wider wie die FDP das der Leistungsträger. Im Kern besetzen die Piraten jedoch eine wichtige liberale Forderung, die die Schriftstellerin Juli Zeh vehement aufgebracht hat: Den Schutz persönlicher Freiheitsrechte vor einem Staat, der Sicherheit über alles stellt und aus Angst vor Terror bereit ist, die Grundrechte seiner Bürger zu beschneiden. Wie real diese Gefahr wirklich ist, wird selten deutlich, weil die Veröffentlichung von Informationen angeblich die Sicherheit zusätzlich gefährden würde. So wird der Bürger entmündigt und von einem nervösen Wächterstaat beschützt. Es wurde Zeit, dagegen aufzustehen. Zugleich fordern die Piraten, den Einzelnen gegen die digitale Sammelwut seiner persönlichen Daten zu schützen. Die Piraten haben das Internet besser verstanden als die Konkurrenz, weil ihre Anhänger Kinder der digitalen Revolution sind. Sie sind Netzexperten. Immerhin.
Vielmehr haben die Piraten aber vorerst nicht zu bieten. Sie wollen die Umwelt schützen. Ja, wer will das nicht? Sie wollen, dass alle in der Gesellschaft teilhaben können und lehnen daher Studiengebühren ab. Sind gegen geschlechterspezifische Diskriminierung. Donnerwetter. Aus den Programmfragmenten spricht das diffus liberale Denken von Großstädtern, aber auch die wacklige Suche nach Haltung von post-politischen Menschen. Die Piraten eint vor allem, dass sie Politik bislang eher mitleidig distanziert aus einem Szene-Café heraus betrachtet haben. Die Generation der Mittelalten, sich immer noch jung Fühlenden, kann mit Parteien und Gewerkschaften wenig anfangen. Engagement erschöpft sich auf die Bestellung der Bio-Abokiste und persönliche Stilfragen. Die Autorin Katja Kullmann beschreibt in ihrem Buch „Echtleben – Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben“ diese neue Innerlichkeit als Ergebnis beruflicher Achterbahnfahrten. So lange man Ressortleiter ist, findet man weniger Steuern für Reiche eine töfte Idee. Wird das Magazin eingestellt, landet man bei der Arbeitsagentur und findet das bedingungslose Grundeinkommen plötzlich auch nicht verkehrt.
Die Zentralorgane aller Selbstreflektierenden heißen Neon und Nido. Da liest man dann über die ganz großen Fragen. Wie bleibe ich mir treu? Wie viel Ellenbogen brauche ich im Job? Wie viel Ehrlichkeit verträgt die Liebe? Wie viel Geld brauchst du? So gesehen ist es ein Wunder, dass sich etliche aus der Generation der Um-sich-selbst-Kreisenden jetzt Piraten nennen und Politik machen wollen. Aber nach dem Karneval, wo man mal ein Piratenkostüm überwirft und eine Rolle spielt, heißt es hü oder hott. Will man größere Einkommensgleichheit oder soll jeder rücksichtslos sein Ding machen dürfen? Sollen deutsche Soldaten in Afghanistan schießen oder nicht? Müssen wir rigoros die Schulden abbauen oder mehr in Bildung investieren? Einige Wochen lang ist es sympathisch, auf wichtige Fragen keine Antworten zu haben wie derzeit die Oberpiraten. Danach sollte sich wieder in seine Kiez-Kneipe verziehen, wer nichts zu sagen hat.
Aus der Haltungslosigkeit ließe sich durchaus ein Modell entwickeln: Die undogmatische Suche nach der besten Lösung für konkrete Probleme. Das wäre der Gegenentwurf zu dem Politikverständnis, das alle anderen von der Linken bis zur CSU eint. Im Bundestag könnte ohne Fraktionszwang abgestimmt werden. Das wäre eine parlamentarische Revolution. Allerdings geht auch das nicht ohne Haltung. Eine Überzeugung, die eine Richtung vorgibt. Nicht immer ist alles rechts oder links. Man kann für mehr bürgerliche Freiheit und weniger Freiheit auf den Finanzmärkten sein. Aber es ist anstrengend, jede Frage neu zu beantworten. Und ohne orientierende Werte wird es diffus. Vorerst spricht nichts dafür, dass diejenigen, die leidenschaftliche Debatten lediglich um die richtige Biersorte oder den ultimativen Musikstil führen, sich mit der gleichen Leidenschaft in die Themen Rente oder Steuern verbeißen werden. Wer nichts hat, was ihm wichtig ist, lässt am Ende alles mit sich machen.