Österreich: Wut. Mut. Tut. Gut.

Von Anneliese Rohrer, Wien, Publizistin und Begründerin der Bewegung Mutbürger-Innen

„Wutbürger“ sind ein Begriffexport der Bundesrepublik Deutschland nach Österreich. Das „Wort des Jahres“ 2010 ließ sich anfänglich schlecht in der Alpenrepublik verkaufen, was nicht weiters verwundern sollte, entstand es doch in der Protestbewegung Stuttgart 21. Und weder mit Protesten noch Bewegung haben die Österreicher mehrheitlich viel am Trachtenhut.
Außerdem beschreibt „Wut“ eine sehr heftige Emotion. Auch dieser lassen Österreicher nicht sehr gerne und häufig öffentlich Lauf. Erstens weil das in der Geschichte selten gut ausging und noch seltener irgendetwas bewirkt hat. Zweitens weil in jedem Österreicher auch heute noch mehr Franz Grillparzer steckt als er sich zugestehen möchte. Eine Zeile aus dem Lobgedicht auf Österreich in „König Ottokars Glück und Ende“ ist gewissermaßen das nationale Mantra: „Denkt sich seinen Teil und lässt die anderen reden“. Da muss jede aggressive Reaktion als Konsequenz der Wut auf eine als unangenehm oder ärgerlich empfundene Situation zwangsläufig schaumgebremst sein.

Vor diesem Hintergrund lässt sich leicht erahnen, wie viel aufgestaute Wut auf die politischen Verhältnisse hierzulande es 2011 gegeben haben muss, dass statt der erwarteten Wenigen über 60 Wiener im Mai 2010 der Einladung zu einem „Wutbürger“-Stammtisch in ein Wiener Kaffeehaus gefolgt sind. Denn was machen Wiener schon, wenn sie eine erste Aktivität setzen wollen? Sie gehen ins Kaffeehaus. Und wenn der Raum wegen des großen Andrangs in dem einen zu klein wird, gehen sie halt in ein anderes.

Dass 80 bis 90 Prozent der Wiener Wutbürger der Generation 50 plus entstammen, ist eine logische Konsequenz a) der Entwicklung seit 1945 und b) der aktuellen Situation. Es ist jene Generation, die jahrzehntelang das System, gegen das sie sich nun auflehnt, akzeptiert und von ihm profitiert hat. Und jene, die nun im Gegensatz zu den Jungen wenig bis keine Gestaltungsmöglichkeit im eigenen Lebensumfeld hat, um den negativen Konsequenzen dieses Systems – unfinanzierbare Sozialsysteme, unerträglich hohe Steuerbelastung, Entkoppelung von Politik und Zivilgesellschaft – gegenzusteuern: Karrieren sind erreicht oder versäumt, der eigene materielle Rahmen fixiert, der Arbeitsmarkt wenig chancenreich für diese Altersgruppe. Sie steht mit dem Rücken zur Wand.

Andrerseits ist es aber auch nur gerecht, wenn sich diese Generation nun den Kopf darüber zerbricht, was denn falsch gelaufen sei und wie das Ruder vielleicht doch noch herumgerissen werden könne. Sie hat im die Zeit, die materielle Basis und wohl auch in vielen Bereichen die Erfahrung. Es ist extrem ungerecht, die Absenz der Jungen von jeglicher Initiative der Auflehnung zu beklagen. Diese sind mit Ausbildung, Berufsleben, Lebenserhaltung mehr als ausgelastet, wenn nicht überfordert. Und sie haben das verkrustete System nicht verschuldet.

So weit zur Wut-Motivation, die im Vorjahr zumindest die Stammtisch-Wiener vornehmlich zum „sudern“ antrieb. Dieses exklusiv österreichische Verbum wurde vor Jahren durch den damaligen Bundeskanzler Alfred Gusenbauer bekannt-berühmt, als er es unwillentlich vor einer Veranstaltung seiner eigenen sozialdemokratischen Partei in ein offenes Mikrofon sagte – und umschreibt „jammern, sich pausenlos über irgendetwas zu beschweren.“ Als nach einigen Stammtisch-Treffen klar wurde, dass die Besucher ihrer Wut zwar freien Lauf lassen wollten, aber nicht wussten wohin, war die Zeit zu einer Mutation gekommen. Aus der Wut musste Mut werden, auch deshalb, weil Wut nach den Exzessen in London ein zu destruktiver Begriff geworden ist.

Der Mutbürger war geboren, der Stammtisch – auch in Österreich kein Ort konkreten Handelns, sondern des diffusen Dampf-Ablassens – musste entsorgt werden. Die Interessierten wurden dennoch von Treffen zu Treffen immer mehr. Nach wie vor ging es eigentlich um konkrete Handlungsmöglichkeiten einzelner Bürger oder verschiedener Gruppen im öffentlichen Raum. Irgendwie ist es für die Kleinteiligkeit Österreichs bezeichnend, dass dafür offenbar besonderer Mut nötig ist: Mut, sich gegen Einschüchterung von offiziellen Politik- oder Partei-Stellen zu wehren; Mut, sein Engagement gegen das Unverständnis im eigenen Familien- und Freundeskreis zu verteidigen; Mut, eventuell karrieretechnische Nachteile in Kauf zu nehmen. Jede noch so halb-öffentliche Meinungsäußerung verbreitet sich rasch. In Stadt und Land kennt jeder jeden.

Immer wieder war es notwendig, darauf hinzuweisen, dass zivilgesellschaftliches Engagement in einer Demokratie im Allgemeinen und in Österreich im Speziellen doch keinen Mut erfordern kann: Es kostet nicht wie anderswo das Leben oder die Freiheit.
Wie also motiviert man wütende Mutbürger dazu, sich nicht nur über das notwendige Ausmaß an Mut zu unterhalten und das vorhandene Maß an Wut zu analysieren, sondern konkrete Aktivitäten – von Massenmails an Politiker und politische Institutionen über Aktionen im Internet bis zum Engagement in traditionellen Parteien – zu setzen?

Das ist bis jetzt nicht aus drei Gründen nicht ausreichend gelungen:
1. Weil auch nach zehn Versammlungen noch immer ein erheblicher Teil der Anwesenden auf eine „Leitfigur“ warten, die sie beim „Tun“ beobachten können und bei deren Scheitern sie dann gefahrlos die Bestätigung für die eigene Passivität bekommen. Wie heißt es bei Grillparzer? „Es ist ein gutes Land, wohl wert, dass sich ein Fürst sein unterwinde“.
2. Dieses „gute Land“ hat in gewisser Hinsicht jetzt eine „Nutzt-Nix-Gesellschaft“, in der mehr Zeit auf die Debatte über die Sinnlosigkeit einer Aktivität als auf deren Machbarkeit und konkrete Umsetzung verwendet wird.
3. Weil in Österreich traditionell jede kritische Debatte über ein Problem bereits für eine Aktion gegen das Problem gehalten, somit das Reden mit dem Tun verwechselt wird.

Daher muss man immer wieder und bei jedem Treffen auf eine Untersuchung in Deutschland hinweisen, die auch Christoph Giesa in seinem Buch „Bürger Macht Politik“ erwähnt: Dort hat sich gezeigt, dass für den sich aktiv einmischenden Bürger gar nicht so sehr das Ergebnis seiner Beteiligung am öffentlichen Diskurs im Vordergrund steht, sondern der Prozess dieser Beteiligung. Warum sich aber gerade so viele Österreicher auch jetzt noch ein solches Glücksgefühl auf dem Weg aus der Hilflosigkeit versagen, ist eine andere Geschichte.
Gut möglich, dass die katholische Tradition, wenn auch nicht mehr Gegenwart, die Ursache dafür ist. Man gesteht sich das Gute, das Wohl- oder Besser-Befinden auslösen könnte, einfach nicht zu. Wahrscheinlich aber sind auch dies nur Schutzbehauptungen zur Begründung von Passivität.
Leider wird die volksabgestimmte Erfolglosigkeit von Stuttgart 21 viele in Österreich darin bestärken. Schlag nach bei Grillparzer!

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