Von Paul Sailer-Wlasits
„Österreich ist frei!“ Mit diesem Satz wurde 1955 der österreichische Staatsvertrag gefeiert und das Ende der Nachkriegsbesatzung proklamiert. Österreich hat danach auf zynische Weise – für sich und in sich – den Nationalsozialismus überwunden, indem es sich zu seinem ersten Opfer erklärte. Die Mehrheit der Österreicher richtete sich in dieser Rolle wohlig ein. Die gräuliche Gemütlichkeit war geboren, die Touristen (nicht „die Ausländer“) waren fortan herzlich willkommen. Viele Probleme wurden und werden in Österreich dadurch gelöst, dass man deren Existenz bestreitet. Denn Österreich hat aus seiner Geschichte gelernt: Wer nachweislich Opfer war, kann nicht gleichzeitig Täter gewesen sein!
„Österreich ist endgültig frei!“ Dieser Wahrheit kann das Land ab 2014 jubelnd entgegenblicken. Österreich steht wieder an der Spitze Europas! An der Weltspitze stand es nach eigenem Dafürhalten ohnehin schon längst. Nichts, gar nichts kann aufgrund der zu Jahresende gebildeten rot-schwarzen Regierung mehr passieren. Österreich ist frei und geschützt vor Negativem jeglicher Art. „Österreich ist eine Insel der Seligen“, bemerkte Papst Paul VI bereits im Jahre 1971. Und Österreich nahm diese Höflichkeit begierig ernst. Doch Herodot, Pindar und andere schilderten die Insel der Seligen wie folgt: Sie liegt im Ozean, irgendwo am Westrand der Erde; auf ihr leben die von den Göttern mit besonderer Gunst bedachten Helden, welchen die Sterblichkeit erlassen wurde, glückselig vor sich hin. In diesem Bild des elysischen Deliriums fühlte und fühlt sich Österreich voll erkannt und adäquat gewürdigt. Daher hat diese Regierungskoalition für sich und in sich lästige Kleinigkeiten, wie etwa die Bildungsdiskussion, endgültig überwunden. Studienabschlüsse mögen in der Welt und in Europa erforderlich sein, nicht mehr in Österreich. Felix Austria verlangt künftig keine Studienabschlüsse mehr für die Ämter des Bundeskanzlers oder des Außenministers. Das ist realpolitisch verwirklichte Abwesenheit von Zwängen, das ist Freiheit; unterzeichnet vom habilitierten Bundespräsidenten des Landes.
Wissenschaft als Nebensache: Symbol eines tief verinnerlichten Zynismus
Österreich wurde im Jahre 2013 endgültig zum Präzedenzfall für Folgenlosigkeit. Einst, in grauer Vorzeit, etwa zu Zeiten Bruno Kreiskys oder Willy Brandts in Deutschland, ging noch ein Raunen durch das Land: Jemand sei ministrabel, wurde hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Spitzenpolitiker aller Couleurs beäugten einander, so, als wäre einer aus ihrer Mitte papabile oder Nobelpreiskandidat. Ministrabel, das war ein Vertrauensvorschuss auf kommende hervorragende Leistungen eines Kandidaten, einer Kandidatin, von denen man im Aussprechen bereits wusste, dass sie aufgrund ihrer ausgezeichneten Befähigungen das Amt ausfüllen würden. Ministrabel ist heute nur noch zur leeren Metapher degradiert. Jeder kann in Österreich 2013 Minister werden: Jeder Student, Studienabbrecher, Taxifahrer, einfach jeder; das zeugt von tiefem Verstehen des Begriffes der Chancengleichheit. Damit das auch so bleibt, hat man 2013 auch das österreichische Wissenschaftsministerium als eigenes Ministerium abgeschafft und die Agenden dem Wirtschaftsminister unterstellt! Das ist ein mutiges Signal, gegeben vom Standpunkt eines zutiefst verinnerlichten Zynismus. Einsam und dennoch gelassen erklärt Österreich die Wissenschaft zur Nebensache. Brüssel wird Bedenken äußern, nichts weiter. Und fortan wird man sich in Brüssel nur noch zu wundern haben, wie wenige freie Termine der Wirtschaftsminister für Gespräche haben wird, die seinen Nebenjob betreffen. Das ist elegant gelebte Konsequenzlosigkeit. Ein völlig entspanntes Kaffeetrinken in der Sackgasse. Das Wissenschaftsministerium ist die „schöne Leich“.
Die sog. schöne Leiche war immer schon wichtig in Österreich. Je schöner und pompöser das Begräbnis, desto mehr konnte man posthum auf die vermeintliche soziale Bedeutung des Verblichenen hinweisen. Zur „schönen Leich“ zählte in der Geschichte des Landes auch der „Pompfüneberer“ (vom französ. pompe funèbres, Bestatter), der Betroffenheit vortäuschende, weil nur gegen Bezahlung anwesende, Trauergast. Eine Mensch gewordene Sonderdeformation.
Während Pisa warnt, lächelt und beschwichtigt die Politik
Sobald das Begräbnis der Wissenschaft – einer Metapher der Bewegung gleich – vorbeigegangen sein wird, tanzt der Wiener Kongress wieder. Wie bereits seit 1814. Fast ununterbrochen wird der Walzer der Folgenlosigkeit getanzt. Geübt und perfektioniert in Jahrhunderten der fatalen Habsburger-Monarchie, zwischen Lügen, Kriegen und Cross-Border-Vermählungen. Dass die damals 15 jährige Maria Antonia als Marie Antoinette von Maria Theresia nach Versailles geschenkt wurde, war kein Versehen, sondern böses Kalkül. Die meisten der damaligen Österreicher waren Analphabeten. Heute warnt Pisa, doch die Politik lächelt und beschwichtigt mit dem Schein der schönen Rede. Denn sie weiß, dass auch Stéphane Hessel irrt: Die Mehrheit der jungen Phlegmatiker empört sich nicht mehr über ihren längst eingeschlagenen sozialen, politischen und kulturellen Abstieg. Ihren Weg hinunter ertragen die Noch-Alphabeten stoisch.
Wieder übersehen sie, dass alles mit Symbolen beginnt, mit Andeutungen und Zeichen. Aus diesen werden Worte und Texte, Ankündigungen und Programme. Dann wird gewählt. Die Mehrheit bestimmt den Weg. Vermeintlich. Entscheidungen werden getroffen. Statt Reformen im Verwaltungs-, Bildungs- und Sozialbereich werden nur Maßnahmen umgesetzt. Ohne Mut und ohne Vision. „Wenn wir klar denken, müssen wir uns umbringen“, sagt Bruscon, der Theatermacher Thomas Bernhards. Es wird allerhöchste Zeit, diese Methode des geistigen Überlebens zumindest wieder in Betracht zu ziehen.
Paul Sailer-Wlasits ist Philosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Der 1964 geborene Sprachphilosoph veröffentlichte zuletzt das Buch „Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens“ im Verlag EDITION VAbENE. Er analysiert darin, wie politische Macht und Sprache miteinander verstrickt sind.