Nichtwähler: Arsch hoch! | #btw13

Von Michael Kraske

Politblog debattiersalon | Reichstag in Berlin | Bundestagswahl Nichtwähler #btw13 CDU CSU SPD FDP Grüne Demokratie | Foto © Marcus MüllerLiebe Nichtwähler,

es gibt viele Gründe, am Sonntag nicht wählen zu gehen: Die da oben kümmern sich doch eh nicht um uns kleine Leute. Genau so wenig wie um die Alten oder die Jungen. Kann man doch wählen, wen man will, ändern tut sich ja doch nichts. Was Wahlversprechen angeht, sind die einen wie die anderen. Vorher versprechen sie einem die Kita-Plätze vom Himmel und hinterher guckste mehrwertsteuertechnisch in die Röhre. Und überhaupt, groß unterscheiden tun sich die Parteien doch eh nicht. Nee, nee, ich bin so oft enttäuscht worden, ich hab die Schnauze voll!

Ganz ehrlich? In Syrien krepieren Menschen, weil sie für das Recht kämpfen, die eigene Regierung und Richtung ihres Landes wählen zu können. Die bereit sind, für Freiheit und Selbstbestimmung zu sterben. Und Ihr schafft es nicht, alle vier Jahre in ein Wahllokal zu spazieren und ein Kreuz zu machen? Weil Ihr enttäuscht seid, vergessen, benachteiligt, überhört, frustriert? Ja, Ihr habt gesetzlich das Recht zu Hause zu bleiben, weil man in einer Demokratie keinen zum kollektiven Glück zwingen kann. Aber Ihr habt die verdammte Pflicht, alle vier Jahre kundzutun, was Ihr wollt und auch, was Ihr nicht wollt. Von Mund-Aufmachen gar nicht zu reden.

Ich kann Euer weinerliches Nichtwähler-Lamento, mit dem Ihr mich in Interviews und Talkshows belästigt, nicht mehr hören. Schlechtes Einkommen, wenig Bildung, Desinteresse, gescheiterte Biographien, Klugscheißertum und pure Ignoranz sind ganz schlechte Ausreden. Keiner glaubt, dass er mit seiner Wahl am Sonntag den Himmel auf Erden auslösen kann, es geht nur darum, das geringere Übel und die besseren Argumente und Vorhaben zu wählen.

CDU, SPD, FDP, Grüne – alles eine Sauce?

Und verschont mich bitte damit, dass wir keine Wahl haben. Es ist eben nicht alles eine Sauce, nur weil man zu faul ist, genau hinzuschauen. Es macht einen Unterschied, ob man allen arbeitenden Menschen einen Mindestlohn garantieren will oder ihnen nicht das schwarze unterm Fingernagel gönnt. Ob man Müttern eine Prämie fürs Zuhausebleiben zahlen oder Kitas finanzieren will. Ob man den Alten eine Rente zahlen will, die über Bettelstatus liegt oder nur den belohnt, der als junger Mensch genug auf der Tasche hatte, um zu sparen. Ob man dafür eintritt, dass sich die Reichen die beste medizinische Versorgung kaufen können oder durchsetzen will, dass der Bedürftigste den besten Arzt sieht. Ob man bereit ist, militärisch gegen Menschenschlächter vorzugehen oder jeden Krieg ablehnt. Ob man für oder gegen Diskriminierung von Schwulen und Lesben ist. Ob man Ausländer für eine Bedrohung oder eine Selbstverständlichkeit hält. Ob man Konsequenzen aus der Finanzkrise ziehen oder alles so weiter laufen lassen will. Ob man E-Mails schützen oder ausschnüffeln lassen will.

Nicht zu wählen ist in Wahrheit eine Stimme gegen die Demokratie. Je mehr sich raushalten, desto schwächer wird das Fundament. Nichtwählen delegitimiert eine pluralistische Gesellschaft, die Meinungsvielfalt und den politischen Wettstreit der Ideen. Wer signalisiert, dass er gar kein Interesse an Einflussnahme hat, stärkt diejenigen, die Demokratie als Dauergezänk denunzieren und durch einen starken Mann ersetzen wollen.

Eine ganz neue Spezies von Nichtwählern ist der pseudo-intellektuelle Avantgardist, der aus Überzeugung nicht wählt und damit hausieren geht, um ein ganz besonderes Zeichen zu setzen, einen dialektischen Weckruf durch Stimmlosigkeit zu setzen – in Wahrheit aber nur, um seiner eigenen, angenommenen intellektuellen Überlegenheit ein wenig tabubrecherische Aufmerksamkeit zu verschaffen. Handelsblatt-Chef Gabor Steingart und Spiegel-Online-Kolumnist Georg Diez tragen ihre Wahl-Enthaltsamkeit wie eine besondere Leistung vor sich her, aber ihr Pseudo-Rebellentum ist nur eine besonders eitle Form von Demokratieverachtung, weil es keine neuen Formen von Teilhabe und politischem Engagement anstößt, sondern elitär-besserwisserische Pose bleibt.

Nichtwählen ist eine Mischung aus Resignation, Gleichgültigkeit und Dummheit. Man liefert sich mit seiner beleidigten Bockigkeit denen aus, die für ihre Überzeugungen eintreten. Und das tun im Zweifel nicht nur die Guten und Demokraten, sondern auch die Demagogen und Menschenfeinde. Ja, Politik ist schmutzig und verlogen, taktisch und egoistisch, selbstverliebt und labil, aber hey, sie ist Abbild der gesamten menschlichen Spezies. Demokratie ist fehlerhaft, anstrengend, langweilig, zäh, zänkisch, aufreibend, kleinteilig und ermüdend. Sie ist nie so gut wie in der Theorie. Aber sie ist die einzige bekannte Staatsform, die jedem die Freiheit garantiert, nach seiner Facon glücklich zu werden, den Rechtsstaat anrufen zu können, so fragwürdig einzelne Urteile auch immer sein mögen und Menschenrechte garantiert zu haben, die Diktatoren nach Lust und Übellaune abschaffen. Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die systematisch Fehler korrigieren kann, auch jene einer falschen Wahl. Es gibt viele Ausreden, um am Sonntag nicht wählen zu gehen. Aber es gibt keine guten. Also, liebe kleinen Leute, Zukurzgekommene und Belogen-und-Betrogene: Arsch hoch, wählen gehen!

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2 Antworten auf Nichtwähler: Arsch hoch! | #btw13

  1. Sandra Bossdorf sagt:

    Ein schöner Rant aber den Gegenrant finde ich überzeugender: http://kiezneurotiker.blogspot.de/2013/09/nein-danke-ich-wahle-euch-nicht.html

  2. Laut einer Studie gibt es (zumindest in Österreich) sechs sich überschneidende und unterschiedlich ausgeprägte Typen von NichtwählerInnen (http://derstandard.at/1378249077386/Waehlen-Nein-danke-Oesterreichs-Nichtwaehler-im-Portraet).
    Dabei hätten wir es selbst in der Hand, zumindest die Lügen aus dem Wahlkampf zu verbannen…
    blog.openmindfestival.at