Neonazis: Weiterhin blind

Von Michael Kraske

An einer Telefonzelle in Limbach-Oberfrohna

An einer Telefonzelle in Limbach-Oberfrohna

Die Blutspritzer an dem leer stehenden Flachbau haben sich braun gefärbt. Toni Müller, ein stämmiger junger Mann im schwarzen Kapuzenpulli, deutet auf Wohnblocks und einen Garagenhof: „Die kamen von überall. Einige von uns sind weggelaufen. Peter und meine Freundin ham se erwischt.“ Peter, sein tschechischer Freund, musste nach dem Angriff von zehn rechtsextremen Schlägern in einer Augenklinik zwei Mal operiert werden. Noch immer kann der junge Mann nur verschwommen sehen. Sie waren auf dem Nachhauseweg von einem Ska-Konzert, das Müller vor einigen Wochen in seiner sächsischen Heimatstadt Delitzsch organisiert hatte. Auf Flyern hatte er verbreitet, dass Neonazis bei dem Konzert nichts zu suchen haben.

Müller ist in Delitzsch aufgewachsen, betreibt das Mode-Label „Proll Streetwear“, bezeichnet sich als Linken und organisiert Konzerte, bei denen er Besuchern, die „Thor Steinar“ oder Nazi-Parolen auf Shirts tragen, den Einlass verwehrt. In Delitzsch sitzt NPD-Aktivist Maik Scheffler im Stadtrat, seit Jahren meidet Müller Kneipen und Tankstellen, um rechtsextremen „Freien Kräften“ aus dem Weg zu gehen. In seiner Wohnung erzählt er, wie er nach dem Überfall zum Oberbürgermeister zitiert worden sei. Dort hätten ihm Vertreter von Stadt und Polizei Vorwürfe gemacht. „Wie bei einem Tribunal“, sagt Müller. Er dürfe niemanden von Konzerten ausschließen. Damit störe er den „sozialen Frieden“ der Stadt, habe das Stadtoberhaupt gesagt. „Man darf ja wohl noch ohne Nazis feiern“, sagt Müller. Die Stadt bestreitet, das Opfer zum Täter gemacht zu haben. Müllers Behauptungen seien „gänzlich unwahr“. Der bleibt bei seiner Darstellung.

Jetzt will er mit Freunden einen Verein gründen, für Vielfalt und gegen Nazis. In vielen ostdeutschen Städten sind Demokratievereine die einzigen Rückzugsräume für „nichtrechte Jugendliche“. Der Begriff von Sozialarbeitern beschreibt, dass Rechtsextremismus vielerorts bereits jugendliche Mehrheitskultur ist. Viele dieser Vereine sind in ihren Städten isoliert und müssen sich verbarrikadieren. In Mügeln, wo vor Jahren acht Inder beim Stadtfest verprügelt wurden, bevor ein fremdenfeindlicher Mob deren Pizzeria attackierte, gründeten junge Leute den Verein „Vive le Courage“. Als Reaktion auf den rassistischen Exzess. Deren Mitglieder wurden seitdem gejagt und verprügelt, das Vereinsheim unter „Sieg heil“-Rufen mit Flaschen und Feuerwerkskörpern angegriffen. Der langjährige Bürgermeister Gotthard Deuse tat die rechte Gewalt als „Ruhestörungen“ ab. Ihn trieb vor allem die Sorge um den guten Ruf und die Angst vor neuerlicher Stigmatisierung als braunes Nest an: „Die Mügelner sind gebrannte Kinder, was Medien angeht. Ich will Ruhe im Ort haben.“

Im Stadtrat bekamen die Vereinsmitglieder zu hören, sie selbst seien Ruhestörer, berichtet ein Sozialarbeiter, der dabei war. Anstatt zu helfen, schloss die Stadt das Vereinsheim, weil es offiziell als Wohnhaus ausgewiesen war. Ein geplantes Konzert gegen Rassismus im Stadtpark wurde wegen Sicherheitsbedenken verboten und musste ins benachbarte Oschatz verlegt werden. Das mobile Beratungsteam gegen Rechtsextremismus sprach in einer Analyse von einer „demokratischen Unkultur“ in Mügeln. Im Verein brachen aufgrund der städtischen Zermürbungstaktik Richtungskämpfe aus. Am Ende gab Roman Becker, der engagierte Vorsitzende, auf und zog weg. „Ich hatte die Schnauze voll“, sagt er, „jetzt kann ich mich auch nachts wieder frei bewegen.“ Das Vereinsleben von „Vive le Courage“ ist lahmgelegt. In Mügeln herrscht seither wieder trügerische Ruhe.

Auch die Einwohner von Neuruppin in Brandenburg haben sich daran gewöhnt, dass in Fenstern des Jugendzentrums „Mittendrin“ nur noch Holzverschläge sind, wo Glasscheiben hingehören. Vor einigen Wochen grölten wieder Angreifer Naziparolen und griffen Vereinsmitglieder an. In vielen ostdeutschen Kleinstädten lebt gefährlich, wer sich die Haare bunt färbt und offen gegen Nazis ausspricht.

So ergeht es auch Amtsrichter Jörn Wunderlich im sächsischen Limbach-Oberfrohna, der für die Partei Die Linke im Bundestag sitzt. Sein Sohn engagiert sich im Verein „Soziale und politische Bildungsvereinigung“. Drei Vereinsheime wurden von rechten Gewalttätern zerstört. Dazu Dutzende Angriffe, mit Flaschen, Steinen und Nazi-Parolen. Oberbürgermeister Hans-Christian Rickauer (CDU) äußerte nach dem Brandanschlag eines Neonazis auf das Vereinsheim, bei dem Anwohner evakuiert werden mussten, in einem Interview die Hoffnung, Rechte und Linke mögen sich doch zusammen setzen. Obwohl es laut offizieller Polizeistatistik gar keine linken Gewalttaten gab, verurteilte der Stadtrat unterschiedslos „Gewaltanwendung durch linke und rechte Extremisten“. Der Berliner Politik-Professor Hajo Funke analysiert, dass die Stadt nach langer Tatenlosigkeit zwar mit symbolhaften Aktionen reagiere, aber: „Die Stadt ist dadurch blockiert, dass sie das Problem als Streit zwischen linken und rechten Jugendgruppen missversteht und das aggressive Neonazitum gar nicht begreifen will.“ Er wirft der Stadt weiter „Verharmlosung“ vor.

Die Neonazis im Ort organisieren sich als „Nationaler Widerstand“ und „Division Limbach-Oberfrohna“. Seit Jahren überziehen sie die Stadt mit Nazi-Parolen, schmieren Hakenkreuze oder Sprüche wie „Nationaler Sozialismus jetzt“. Eine der Führungsfiguren unterhält Kontakte zu Anführern der verbotenen Neonazi-Kameradschaft Sturm 34. Mehrfach stellte die Polizei die militanten Neonazis, die in Sachsen über Jahre mit „Skinhead-Kontroll-Runden“ Jagd auf Opfer machten, in Limbach-Oberfrohna fest.

Ein Beispiel für rechte Gewalt: Vermummte belagerten das Wohnhaus von Richter Wunderlich, bedrohten dessen Sohn und demolierten anschließend die Fenster im Erdgeschoss. „Der klassische Landfriedensbruch“, so der Jurist kürzlich bei einer Anhörung im Sächsischen Landtag, „angeklagt ist aber nur Sachbeschädigung. In der Statistik taucht das nicht als politische Straftat auf.“

Kein Einzelfall: Seit Jahren zählen die ostdeutschen Opferberatungsstellen doppelt so viele Taten wie die Innenministerien. Was nicht nur daran liegt, dass die Vereine auch Angriffe zählen, bei denen Betroffenen die Flucht gelingt. Über das ganze Ausmaß rechter Gewalt existiert derzeit kein scharfes Lagebild. Ostdeutsche Beratungsstellen fordern, endlich auch im Westen Opfer-Projekte aufzubauen. Denn bei rechter Gewalt liegen zwar die ostdeutschen Länder seit Jahren vorn, aber nur bezogen auf die Einwohnerzahl. Die meisten rechten Gewalttaten wurden etwa 2010 in Nordrhein-Westfalen verübt. 2012 zählten die Opferberater mit 706 rechten Angriffen in den östlichen Bundesländern fast so viele wie das Bundesinnenministerium für ganz Deutschland.

Nazi-Gewalt ist kein exklusives Ost-Phänomen, gleichwohl ist die rechtsextreme Alltagsmacht im Osten stärker. Das Polizeirevier in Limbach-Oberfrohna ist seit Jahren mit den Straftaten von Neonazis überfordert. Der zuständige Polizeipräsident Uwe Reißmann verweist zwar darauf, dass allein von März bis Dezember 2011 in Limbach-Oberfrohna zusätzliche 20500 Einsatzstunden von 3000 Kräften geleistet wurden. Die Bedrohung durch rechte Straftäter konnte das jedoch nicht beenden. In diesem Zeitraum kam es zu weiteren massiven Angriffen, etwa als sich ein rechter Mob auf dem Stadtparkfest sammelte und loszog, um das Vereinsheim der verhassten „Zecken“ zu stürmen. Im Mai griffen erneut rechte Gewalttäter die „Soziale und politische Bildungsvereinigung“ mit Flaschen und Steinen an. Kurzzeitig massive Polizeipräsenz, die wieder einem unterbesetzten Alltag weicht, eröffnet Neonazis immer wieder rechtsfreie Räume.

Politikwissenschaftler Funke wirft der Polizei vor Ort „sträfliche Vernachlässigung“ rechter Gewalttaten vor. Im Zuge einer Polizeireform sollte das Revier sogar aus dem Ort verlegt werden. Bei der zuständigen Polizeidirektion müssen 350 Stellen abgebaut werden. Ein Polizeigewerkschafter warnte, viele Reviere seien nachts ohnehin nur besetzt, um die Waffen zu bewachen. Opfer müssten künftig noch länger auf Hilfe warten. Viele vertrauen nicht mehr auf die Hilfe der Polizei, sondern legen sich Pfefferspray zu. Militante „Freie Kräfte“ treffen vielerorts auf einen schwachen Staat.

Und auf eine langsame Justiz. Richter Wunderlich kritisiert, dass für den Angriff auf sein Wohnhaus zwei Jahre lang niemand vor Gericht gestellt wurde: „Vier Mal wurde terminiert und wieder aufgehoben.“ Auch das ist eher Regel als Ausnahme. Fast zwei Jahre brauchte das Amtsgericht Zossen, Brandenburg, um einen bekennenden Neonazi zu verurteilen, der dazu angestiftet hatte, das „Haus der Demokratie“ anzuzünden. In Dresden durften fünf Anführer der verbotenen Kameradschaft Sturm 34 zwei Jahre lang auf ihren Revisionsprozess wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung warten. Das Landgericht sah sich aus Überlastung nicht in der Lage zu verhandeln. Mit jeder Verzögerung steht den Angeklagten ein Abschlag beim Strafmaß zu. Die Körperverletzungen von Sturm 34, die einige Opfer nur mit Glück überlebten, liegen mittlerweile sechs Jahre zurück. Das Signal der Justiz ist Laxheit, nicht Härte.

Dass die juristische Sensibilität für rechte Tatmotive trotz NSU-Terror nicht gestiegen ist, lässt sich derzeit im Leipziger Landgericht beobachten. Fünf junge Männer sind angeklagt, den Obdachlosen André K. im sächsischen Oschatz erschlagen zu haben. Einige von ihnen haben gestanden. Die Antifa veröffentlichte Fotos, die den mutmaßlichen Haupttäter unter einer Reichskriegsflagge und mit NPD-Aktivisten bei einer Demo zeigen. Ob aber sozialdarwinistischer Menschenhass das Motiv ist, hat die Staatsanwaltschaft nicht ermittelt. Die Fotos tauchen in der Ermittlungsakte nicht auf. Für den Chefermittler ergaben sich keine Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund, schließlich sei im Umfeld der Tat kein Hitlergruß gezeigt worden. Die Anwältin des erschlagenen Opfers, die als Nebenklägerin auftritt, kritisiert die Ermittler dafür, die öffentlich zugänglichen Hinweise zu ignorieren.

Ein rechtes Tatmotiv bei einem Tötungsdelikt festzustellen, hat nicht nur statistische, sondern auch juristische Folgen. Wer aus kollektivem Menschenhass auf Ausländer oder Obdachlose tötet, erfüllt das Mordmerkmal eines „sonstigen niedrigen Beweggrundes“. Wird dieses Mordmerkmal nachgewiesen, muss ein Gericht wegen Mordes und nicht wegen Totschlags verurteilen. Doch anders als bei klassischen Mordmerkmalen wie Heimtücke oder Rache tun sich deutsche Gerichte schwer, rechtsextreme Tatmotive festzustellen.

Zeit-Rechercheure ermittelten 28 Obdachlose, die zwischen 1989 und 2010 aus rechtem Hass gegen „Asoziale“ ermordet wurden. Offiziell anerkannt wurden aber nur sieben. Bei keiner Opfergruppe wird das politische Tatmotiv so häufig ignoriert wie bei Obdachlosen. In Berlin mag Bundespräsident Joachim Gauck dem Rechtsextremismus in einer berührenden Antrittsrede die Stirn bieten. Draußen im Land betreiben etliche Polizisten, Staatsanwälte, Richter und Bürgermeister business as usual.

Dieser Beitrag wurde unter Alle Artikel, Politik: Deutschland, STREIT-BAR abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

3 Antworten auf Neonazis: Weiterhin blind

  1. Pingback: Hinweise des Tages | NachDenkSeiten – Die kritische Website

  2. trauriger sagt:

    Und wieder in guter Blog, ohne Druckfuntion aber mit illigalem Facebook und google++
    Button.
    INhalt sehr gut, ausführung grottenschlecht insgesamt zeitverschwendung, leiderl.

  3. Sven sagt:

    Auf den Inhalt kommt es doch wohl in erster Linie an, oder? Wenn der “sehr gut” ist, warum ist die Lektüre dann Zeitverschwendung? Wegen angeblich “illegaler” Buttons oder wegen der angeblich “grottenschlechten Ausführung”? Wer so harte Pauschalurteile fällt, sollte wenigstens darauf achten, dass seine Mail nicht so grottenschlecht ausgeführt ist. Die wirkt “leiderl” noch viel trauriger, wenn darin von “Druckfuntion”, “illigalem”, von “INhalt”, “ausführung” und “zeitverschwendung” die Rede ist. Wer sorgfältige Ausführung anmahnt, sollte bei sich selber anfangen.