Meine Ode auf den Rücktritt

Von Marion Kraske

Werte also: Unverzichtbar sind sie, in der Familie, im Job. Werte wie Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Integrität. Was wären Freundschaften ohne diese Eckpfeiler menschlichen Miteinanders? Was sollten wir unseren Kindern anderes auf den Weg geben, um sie zu aufrechten, aufgeklärten Individuen zu erziehen? Wie könnten wir unser Gemeinwesen organisieren, ohne die ordnende Kraft von Kategorien wie falsch und richtig, gut und böse, wahr und unwahr?

Und auch in der Politik sollten sie gelten, diese Werte, wer würde da widersprechen? Zudem kommt eine weitere Disziplin hinzu, die den Macht geifernden Kosmos zu bändigen in der Lage ist: Der Rücktritt. Er kann Werten dort wieder zu Gültigkeit und Strahlkraft verhelfen, wo Fehltritte sie in einen Nebel der Nichtigkeit tauchten. Rücktritte sind denn auch mehr als nur Schlagzeilen im eventfokussierten Nachrichtengeschäft. Sie helfen, die politische Hygiene wiederherzustellen und sind damit von vitaler Bedeutung für die Demokratie. Sie sind ein reinigendes Instrument dort, wo die Kultur der Unwahrheit und des Vertuschens fröhliche Urständ feiern.

In der Causa Wulff werden nunmehr seit einer gefühlten Ewigkeit immer wieder neue Details bekannt, die belegen, dass der Niedersachse es mit dem Mein und Sein, mit der Trennung von Privatem und Beruflichem nicht besonders ernst nimmt. Dass er die Wahrheit immer nur dort bedient, wo sie nicht mehr zu widerlegen ist. Dass er sich immer wieder in unschönen Grauzonen tummelt und Sonderbehandlungen in Anspruch nimmt, wo dezente Zurückhaltung, klare Grenzziehung und vor allem der eigene Geldbeutel gefragt wären. Nach Krediten, Upgrades, Luxus-Urlauben geht es nun um sein Auto und mögliche Vorteilsnahme. Es nimmt einfach kein Ende.

Ob das alles auch strafrechtlich relevant ist, muss sich erst weisen: Immerhin hat Wulff dem Bundespräsidialamt die erste Razzia durch eine deutsche Staatsanwaltschaft beschert. Ein Novum. Und ein neuerlicher Tiefpunkt seit seiner Inthronisation. Da der im Fokus der Ermittler stehende Ex-Sprecher – nicht irgendwer, sondern erklärtermaßen Wulffs Faktotum – im Verdacht steht, in Niedersachsen krumme Geschäfte gemacht zu haben, bleibt die Frage erlaubt: Kann es wirklich sein, dass sein Dienstherr davon tatsächlich keine Ahnung hatte? Viel möchte man auf diese geringe Wahrscheinlichkeit nicht wetten.

Wie schon im Falle von zu Guttenberg steht mit Wulff neuerlich ein Politiker in der Kritik, der selber andere immer wieder mit einem moralischen Imperativ bedachte. Zum damaligen Präsidenten Rau und seiner Flugaffäre fiel Wulff ein: „Es ist tragisch, dass Deutschland in dieser schwierigen Zeit keinen unbefangenen Bundespräsidenten hat, der seine Stimme mit Autorität erheben kann.“ Wie selbst würde sich Wulff wohl selber heute nach all den bekannt gewordenen Unverträglichkeiten bezeichnen? Als unbefangen? In der Öffentlichkeit und bei der Autorin wird das Unbehagen dagegen immer größer angesichts der unrühmlichen Auskleidung des Präsidentenamtes.

Fest steht: Die Autorität von Wulff ist unwiderbringlich dahin. Spätestens seit öffentlich wurde, dass er auf die Vergesslichkeit des Volkes baut. Wie aber soll man vergessen, wenn nahezu täglich neue Indizien ans Licht kommen, die Wulff eben nicht im besten Licht dastehen lassen? Dass er schon jetzt dem höchsten Staatsamt und der Politik in Gänze Schaden zugefügt hat, dass ihn eine Mehrheit der Deutschen für unglaubwürdig hält und nicht mehr im Amt sehen will – ihn scheint es nicht zu kümmern. Die eigenen salbungsvollen Worte von einst – sie scheinen vergessen. Der Moralapostel wird so zum Teflonpräsidenten. Eine neue Disziplin in der bundesdeutschen Politik, sehen wir einmal vom Aussitz-Kanzler Helmut Kohl ab. Oder wäre dieses Verhalten bei einem Roman Herzog oder gar einem Richard von Weizsäcker denkbar gewesen? Wohl kaum. Ihre politische Statur besitzt Wulff ohnehin nicht.

Jenseits der Grenzen ist die fortgesetzte Negation von Werten längst politische Realität – zum Schaden der demokratischen Verfasstheit. Nachbar Österreich ist ein Paradebeispiel für ein Gemeinwesen, das nahezu keine Konsequenzen kennt. Alpenländische Politiker können sich bis über die Schmerzgrenze hinaus alles erlauben, der Amtserhalt ist ihnen sicher. Zu sehr ist die öffentliche Meinung an Unterirdisches, an Wertverletzungen aller Art gewöhnt. Saktionierung, den reinigenden Rücktritt – all das gibt es in der österreichischen Politik nicht. Und auch Frankreich gibt kein rühmliches Beispiel ab: Nicolas Sarkozy deportierte in einer nächtlichen Aktion unschuldige Familien – allesamt Roma – auch das ohne Konsequenzen. Und nicht zu vergessen Italien. Jahrelang trat der feixende Silvio Berlusconi allgemeingültige Werte mit Füßen. Bis das Gemeinwesen zum stinkenden Morast verkam, in dem selbst Sex mit Minderjährigen noch zur großen Party stilisiert wurde. Bunga bunga.

Sicher, Wulff ist kein Berlusconi – und doch beschreitet er eben jenen Weg, den zu Guttenberg im vergangenen Jahr so unrühmlich geebnet hat. Damals versuchten die Konservativen den Täuscher heilig zu sprechen, zum Glück gab es eine Riege aufrechter Wissenschaftler, die mit ihrem Sturm der Entrüstung und unwiderlegbaren Pfuschnachweisen Tugenden wie Integrität und Ehrlichkeit wieder Geltung verschafften. Und auch Wulff wird am Ende einsehen müssen, dass er den Kredit, den man ihm entgegenbrachte, längst aufgebraucht hat. Denn nicht die Kritik an ihm schädigt das Amt, wie vielfach gerne angeführt wird, sondern sein Verhalten und seine Weigerung,
eben diesem Amt einen letzten, erlösenden Dienst zu erweisen. Inzwischen steht er da wie einer, dem man alles zutraut. Lediglich 44 Prozent der Deutschen waren zuletzt mit seiner Amtsführung zufrieden. Es ist der schlechteste Wert, der je für einen Bundespräsidenten ermittelt wurde. Doch auch das wird Wulff sicherlich noch unterbieten.

Dieser Beitrag wurde unter Alle Artikel, Politik: Deutschland, STREIT-BAR abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.