Von Marion Kraske
Sie hat sich also hinreißen lassen, sich entschieden, auf dem Ticket zu fahren, das dieser Tage im Wahlkampf angesagt ist wie kein Zweites, und das grenzüberschreitend: Angela Merkel hat in einem Interview festgestellt: „Die EU ist keine Sozialunion“. Und: CDU und CSU arbeiteten daran, bei Sozialleistungen wie dem Kindergeld „bestmöglich Missbrauch ausschließen zu können“.
Nur wenige Tage vor der Wahl eifert Merkel damit Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD), den Pro-Parteien oder der österreichischen FPÖ nach, die Anti-Stimmung unter´s Volk träufeln. Für sie alle sind Zuwanderer nichts mehr als überflüssige Sozialschmarotzer. Mit ihrem Vorstoß zeigt die CDU Nerven und beweist, dass sie sich Sorgen macht um ihre konservative Klientel. In letzter Minute wird nun versucht, diese unter allen Umständen an sich zu binden. Es ist eine Klientel, die meint, dass Ausländer nur ins Land kommen, um sich an unserem Wohlstand zu laben. Und entsprechend offen ist für einfachste Parolen.
Hintergrund der Merkelschen Stimmungsmache ist zweifelsohne der Höhenflug der AfD, die mal gegen den Euro, mal gegen Zuwanderung anredet und laut Umfragen bei der Europawahl am Wochenende mit neun Prozent der Stimmen rechnen könnte.
Auch Merkels flugse Populismus-Nummer, kurz bevor in den meisten EU-Ländern die Wahllokale öffnen, ist aus mehreren Gründen unanständig: Zum einen verknüpft sie, wie über Jahrzehnte vor allem durch die C-Parteien erprobt, Zuwanderung neuerlich mit dem Themengebieten Kriminalität und Missbrauch. Eine inhaltliche Verkürzung eines komplexen und hochsensiblen Themas, die nicht nur einseitig und populistisch ist, sondern auch gefährlich, da sie neuerlich in der Bevölkerung Abneigungen und Anti-Haltungen schürt. Wozu der unreflektierte Hass auf Zugewanderte führen kann, haben die NSU-Morde auf traurige Weise unter Beweis gestellt.
Sonntagsreden nach NSU
Dabei hatten sich nach dem Aufdecken der NSU-Mordserie Politiker aller Parteien im Bundestag hingestellt und salbungsvoll beteuert, sie hätten verstanden. Auch der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses hatte dokumentiert, dass Deutschland statt Stimmungsmache gegen Migranten vor allem eine ideologische Öffnung braucht, eine andere Haltung, ein anderes Bewusstsein, um Taten mit Rassismus- und Fremdenfeindlichkeit als Motiv künftig den Boden zu entziehen.
In Wahlkampfzeiten freilich werden solche Erkenntnisse schlicht dem Parteikalkül geopfert. Merkel opfert dabei freilich auch ihre eigenen jüngsten Vorstöße zum Thema, als sie etwa beim Demographie-Gipfel im vergangenen Jahr vielbeachtet feststellte, dass Deutschland Zuwanderung bräuchte. Diese positive Bewertung von Migration – sie wird nun wieder mit der alten „Sozialmissbrauchs-Leier“ zugekleistert.
Studien belegen positive Effekte
Unanständig ist der Merkelsche Vorstoß auch aus einem zweiten Grund: So belegen Studien, dass die Vorstellung, dass nach Deutschland nur soziale Faulpelze einwanderten, grundlegend falsch ist. Dass Zuwanderer aus EU-Ländern dabei mitunter gar besser ausgebildet sind als der Durchschnitt der hier lebenden Deutschen – diese Tatsache passt eben nicht ins Bild jener, die das Thema Zuwanderung gern in Schwarz-Weiß-Kategorien malen.
Auch die EU-Kommission kam zu einem differenzierten Bild, als sie die Zuwanderung in sechs europäische Städte untersuchte und feststellte, dass unter´m Strich alle sechs Metropolen vom Zuzug der Arbeitskräfte wirtschaftlich profitieren konnten. Das alles aber ist zu positiv, so scheint es, um im Wahlkampf der Christenunion Erwähnung zu finden.
Merkels aktuelle Stimmungsmache hat folglich mit den Realitäten wenig zu tun. Dass ihre Einlassungen vor allem dem erklärten Ziel Deutschlands schaden, nach Jahren der Realitätsverweigerung endlich so etwas wie eine nachhaltige Willkommenskultur auszuprägen – jüngst gerade erst wieder von den Integrationsministern der Bundesländer als dringliches gesellschaftspolitisches Ziel formuliert – die Kanzlerin scheint es wenig zu kümmern.
Kalkül: Kurzfristiger Wahlerfolg
Alles in allem beweist Merkel mit ihrem Ausflug in den Populismus, dass ihr
kurzfristige Wahlerfolge wichtiger sind als ein langfristig angelegter gesellschaftlicher Konsens darüber, dass eine offene, tolerante Grundhaltung der Deutschen gegenüber Zuwanderern das Gebot der Stunde sein muss. Nicht nur aus wirtschaftlicher Notwendigkeit heraus (Stichwort demographischer Wandel, Fachkräftemangel), sondern als Ausdruck eines fortgeschrittenen Erkenntnisgewinns.
Anders dagegen Joachim Gauck: Während sich Merkel dieser Tage in den Niederungen der Politik tummelt, zeigt er mit einer großen Rede zum Grundgesetz neue Wege auf. Nachdrücklich fordert er mehr Gelassenheit beim Thema Einwanderung und die längst überfällige Akzeptanz von komplexen Lebenswirklichkeiten. Da jeder fünfte Bundesbürger inzwischen familiäre Wurzeln im Ausland habe, sei es skurril, „wenn manche der Vorstellung anhängen, es könne so etwas geben wie ein homogenes, abgeschlossenes, gewissermaßen einfarbiges Deutschland“.
Die Kategorien “Wir” und “Die da” – sie scheinen von gestern. Das hat der erste Mann im Staate vor der Europawahl mit Klarheit und klugen Worten zum Ausdruck gebracht. Die Rede Gaucks ist ein wichtiges Bekenntnis gegen Rassismus und Ressentiments. Der Präsident hat verstanden, die wahlkämpfende Regierungschefin dagegen noch nicht.