Von Siegesmund von Ilsemann
Ein Virus geht um im Pentagon, dem US-Verteidigungsministerium, weltweit größtes Bürogebäude, am Virginia-Ufer des Potomac gelegen, schräg gegenüber der Mall, dem Zentrum von Washington. Es ist ein gefährlicher Erreger. Er nistet sich im Gehirn ein und schwächt das Denkvermögen der Infizierten – bis hin zum völligen Versagen.
Im E-Ring, dem äußeren der fünf konzentrischen Büro-Ringe, der auch die Diensträume des Ministers beherbergt, scheint dieser Krankheitskeim ganz besonders zu wüten. Er hat dort schon etliche Amtsinhaber um den Verstand gebracht:
Caspar Weinberger etwa, Aufrüstungsminister des Sternenkriegers Ronald Reagen. Alljährlich ließ „Cap the Knife“ eine Hochganzbroschüre über „Die sowjetische Militärbedrohung“ drucken, in der das damals schon bankrotte rote Riesenreich stets zu einem omnipotenten Militärmonster mutierte, das angeblich drauf und dran war, die USA mit Haut und Haaren zu verschlingen.
Oder der berüchtigte Kriegstreiber des tumben George W. Bush, Donald Rumsfeld, der sein Land gleich in zwei völkerrechtswidrige Kriege log, dabei gegen den Rat führender Militärs die USA in zwei verheerende Guerillakriege verstrickte und Folter als legitime Verhörtechnik im fragwürdigen Krieg gegen den Terror guthieß.
Nun scheint es einen weiteren Pentagonchef erwischt zu haben, Leon Panetta (l.), 23. Verteidigungsminister der USA.
Als ich – damals Leiter des Washingtoner Spiegel-Büros – den kalifornischen Anwalt 1992 im Wahlkampf kennen lernte, galt Panetta als einer der Vernünftigsten im Clinton-Team. Heute, unter Barack Obama zum Verteidigungsminister aufgerückt, scheint er von allen guten Geistern verlassen.
In einem an Dramatik kaum noch zu steigernden Brandbrief warnt Panetta zwei republikanische Mitglieder einer vom Weißen Haus und Kongress vereinbarten Sparkommission vor Kürzungen im Pentagon-Etat. Bis zum 23. November sollen die Kommissare Streichposten im US-Haushalt auflisten, mit denen binnen zehn Jahren die amerikanischen Staatsausgaben um 1 500 000 000 000 Dollar (1,5 Billionen $) gekürzt werden können.
Das musste Obama den oppositionellen Republikanern zugestehen, um die drohende Insolvenz der Supermacht zu verhindern. Einigt sich die Kommission nicht auf eine Streichliste, fällt – gesetzlich vorgeschrieben – das Fallbeil: Insgesamt 1,2 Billionen werden dann in den nächsten zehn Jahren nach einem festen Schlüssel aus dem Bundeshaushalt gestrichen, die Hälfte davon – 600 Milliarden – aus dem Wehretat.
Klingt gewaltig. Die Bundesrepublik könnte davon Ihren Verteidigungshaushalt in heutiger Höhe fast 15 Jahre lang bestreiten. Die USA hingegen stecken Jahr für Jahr weit mehr in ihre bewaffnete Macht. 685 Milliarden Dollar beträgt der Pentagonetat für 2011. Selbst wenn es zur automatischen Mittekürzung käme, beliefe die sich – über den Daumen – auf nicht einmal zehn Prozent des seit vielen Jahren übermäßig aufgeblähten Militäretats.
Nicht eben viel für eine Nation, die fast fünf Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts, des Wertes all der Güter und Dienstleistungen, die binnen 12 Monaten in den USA erwirtschaftet werden, in Wehr und Waffen investiert. Ein Fünftel aller Staatsausgaben verschwinden im Pentagon. Die Führungsmacht der westlichen Welt gibt für ihre Streitkräfte weit mehr Geld aus als alle anderen 27 Nato-Staaten – zusammen. Bereits jetzt beschlossene Kürzungen des US-Verteidigungsetats in Höhe von 350 Milliarden Dollar führen denn auch nicht etwa dazu, dass er real schrumpft. Lediglich sein weiterer Anstieg wird begrenzt – etwa auf die Höhe der Inflationsrate.
Und dennoch jammert Panetta, den US-Streitkräften drohe ein Absturz auf eine Personalstärke wie zuletzt im Jahr 1940. Die Navy sinke gar auf den Stand von 1915, und die Luftwaffe wäre dann die kleinste der US-Geschichte. Die Vergleiche sind geradezu lächerlich:
Eine einzige amerikanische Division kann heute mehr Feuerkraft mobilisieren als ganze Heere im 2. Weltkrieg. Eine US-Flugzeugträgergruppe, knapp zehn davon kreuzen derzeit unter dem Sternenbanner, besitzt mehr Kampfkraft als alle Flotten im 1. und 2. Weltkrieg zusammen. Und – Kürzungen hin oder her – die US Air Force ist allen anderen Luftwaffen dieser Welt weit überlegen und wird das auch in absehbarer Zukunft bleiben.
Doch trotz dieser auch historisch beispiellosen Überlegenheit sieht Panetta die Supermacht in Gefahr. Die Kürzungspläne kämen einer Einladung zum Angriff auf die USA gleich, lamentiert der Pentagonchef ganz im Tonfall von „Cap the Knife“, in dessen republikanischer Partei er einst seine politische Karriere begann.
Wer sollte denn das waffenstarrende Amerika attackieren? Russland etwa, das sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vergeblich bemüht, seine dramatisch geschrumpften Streitkräfte mit halbwegs modernen und vor allem funktionierenden Waffen auszustatten? Oder China, die kommenden Weltmacht, die aber allen Unkenrufen zum Trotz noch Generationen benötigen wird, um mit den USA militärisch gleichzuziehen – falls das überhaupt die Absicht Pekings ist?
Oder droht gar die Invasion vom Mars? Sind die Körperfresser aus dem All bereits unterwegs auf ihrer Mission Earth, um uns Irdischen den Garaus zu machen?
Unsinn, natürlich. Die einzige militärische Gefahr, die der Weltmacht derzeit droht, geht aus vom „militärisch-industriellen Komplex“, vor dem bereits Präsident Eisenhower 1961 in seiner Abschiedsrede warnte.
Diese überaus mächtige Interessengemeinschaft von Militär und Rüstungsindustrie hat den USA in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur aberwitzige Rüstungslasten aufgebürdet. Diese unheilige Allianz steht auch hinter den beiden völkerrechtswidrigen Kriegen, die während der zurückliegenden Dekade den amerikanischen Staatshaushalt Jahr für Jahr mit zusätzlichen Hunderten von Milliarden Dollar belastet haben.
Es sind diese gigantischen Kosten und nicht irgendwelche militärischen Bedrohungen, welche die Vereinigten Staaten in eine Lage gebracht haben, in der sie heute als Supermacht vor dem Scheitern stehen. Und Leon Panetta fürchtet, dass ihm dafür nun – völlig zu Recht – die Rechnung präsentiert wird.
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