Krim-Krise: Das Völkerrecht und die normative Kraft des Faktischen

Von Anton Pelinka, Professor of Nationalism Studies and Political Science, Central European University, Budapest

Der „Anschluss“ der Krim an die Russische Föderation verletze das Völkerrecht – das ist die herrschende Meinung im Westen. Die Krim habe ein Recht auf Selbstbestimmung, und überhaupt sei es Doppelmoral, wenn im Fall der Krim das verurteilt wird, was im Fall des Kosovo begrüßt wurde. Wer hat recht?

Natürlich sind beide Argumente schlüssig, in diesem Sinne haben beide Seiten „recht“. Nach den vom Europarat beschlossenen Normen – und die Russische Föderation ist ebenso wie die Ukraine Mitglied des Europarates, dürfen Änderungen von Grenzen zwischen den Staaten Europas nur einvernehmlich erfolgen. Und einvernehmlich ist das, was in der Krim abläuft, sicherlich nicht. Aber das war auch die Ausrufung der Unabhängigkeit des Kosovo nicht, die von den meisten Staaten des Westens akzeptiert wurde.

Der Unterschied zwischen den beiden Fällen einer Abspaltung einer autonomen Teilrepublik liegt nicht im Recht, sondern in der Politik: Bevor der Westen (sprich: die NATO) 1999 militärisch im Kosovo eingriff und mit Gewalt den Rückzug Serbiens erzwang, herrschten im Kosovo Krieg und ethnische Säuberungen. Als Russland 2014 in der Krim eingriff, gab es dort seit vielen Jahren einen relativ stabilen Status quo: eine auch mit Russland im „Budapester Abkommen“ vereinbarte Autonomie, die der russischen Mehrheit bestimmte Rechte und der russischen Marine die Stationierung ihrer Schwarzmeer-Flotte sicherte. Russlands Griff nach der Krim verletzt einen stabilen, international abgesprochenen Status quo. Der NATO-Militärschlag gegen Serbien war die Intervention in kriegerische Auseinandersetzungen.

Dass beides gegen das Völkerrecht verstieß, bzw.verstößt – im Fall des Kosovo eine Militärintervention ohne Billigung des UN-Sicherheitsrates, in beiden Fällen eine erzwungene Änderung der Grenzen souveräner Staaten – ist die eine Seite, aber eben nur eine Seite der Loslösung des Kosovo von Serbien und der Krim von der Ukraine. Die andere Seite ist die Beschränktheit des Völkerrechtes. Dessen „Schwäche“ ist das Fehlen einer zentralen Autorität, die als allgemein akzeptierte Instanz letzte Entscheidungen treffen und auch durchzusetzen in der Lage wäre. Während „Recht“ immer etwas mit „government“ und Staat zu tun hat, ist es im Fall des Völkerrechtes eine Selbstverpflichtung der Staaten. Über die Einhaltung dieser Selbstverpflichtung wacht – letztlich – niemand, jedenfalls keine Autorität, die mit einem staatlichen Justizsystem vergleichbar wäre.

Völkerrecht versus andere Faktoren

Der Begriff „Völkerrecht“ erweckt falsche Erwartungen. Die Regeln des Völkerrechtes stehen in einem Konkurrenzverhältnis mit anderen Faktoren, die internationales politisches Verhalten bestimmen: vor allem mit den Interessen der Staaten, die über die Machtmittel verfügen, ihren Wünschen zum Durchbruch zu verhelfen. Nötigenfalls setzen diese Akteure ihre Machtmittel ein, auch wenn dies gegen die Bestimmungen des Völkerrechtes verstößt.

Was man dagegen tun kann? Es gibt Tendenzen, das grundsätzlich nur auf nationaler Ebene wirksame Recht auf die internationale Ebene zu heben. Der Internationale Strafgerichtshof ist ein solcher Versuch. Allerdings machte die Weigerung der großen Mächte (auch der USA, auch Russlands), sich der Autorität dieses Gerichtshofes zu unterwerfen, die Begrenztheit dieses Versuches klar. Die großen Stunden internationaler Strafgerichtsbarkeit – Nürnberg und Tokio – waren und bleiben, jedenfalls für die vorhersehbare Zukunft, Ausnahmen; Ausnahmen, denen bestimmte ad-hoc eingesetzte Gerichte – etwa mit Bezug auf Kriegsverbrechen im Balkan – nahe kommen.

Das Völkerrecht ist solange begrenzt, solange die Welt sich nicht vom Gedanken staatlicher Souveränität verabschiedet. Es ist dieses Konzept der Souveränität, das auf den Beginn der Neuzeit zurückgeht, das eine die Staaten und ihre Regierungen auch gegen deren Willen verpflichtende Ordnung verhindert. Wie oft haben Mitglieder des UN-Sicherheitsrates Entscheidungen mit dem Hinweis auf das Verbot der „Einmischung in interne Angelegenheit“ verhindert – und damit demonstriert, dass das Recht auf der internationalen Ebene nur eine weiche („soft“) Ordnung sein kann, abhängig von den gegebenen Machtverhältnissen.

Was fehlt: Supranationale Ordnung

Wann und wie könnte sich das grundsätzlich ändern? Die Voraussetzung dafür wäre eine supranationale globale Ordnung: „global government“. Eine solche Ordnung ist vorstellbar, aber nicht in Sicht. Aber immerhin: Auf europäischer Ebene versucht die Europäische Union, das Prinzip staatlicher Souveränität zu relativieren. Die EU ist so etwas wie ein Versuchslabor von Supranationalität.

Es ist schwierig genug, Großmächte von gestern – etwa Großbritannien und Frankreich – dazu zu bringen, die Aufgabe eines Stückes Souveränität im Rahmen der EU zu akzeptieren. Es ist vorstellbar, aber nicht zu erwarten, dass die USA oder die Russische Föderation oder auch die Volksrepublik China nicht mehr auf dem Vorrang ihrer nationalen Souveränität bestehen und damit die Chance eröffnen, dass das weiche Völkerrecht sich zu einem harten, zentral durchsetzbaren Recht entwickelt.

Das Völkerrecht darf eben nicht überschätzt und überfordert werden. Es leistet gute Dienste, um gemeinsam entwickelte Interessen der Staaten zu sichern. Wenn es aber um die Interessenskonflikte zwischen den wirklich Mächtigen geht, hilft ein Karl Marx zugeschriebener Satz die Welt besser zu verstehen: Wann immer eine Idee einem Interesse begegnet, musste noch immer die Idee vor dem Interesse weichen. Das Völkerrecht ist eine Idee – sie wirkt, wenn sie den herrschenden Interessen entspricht.

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