Von Marcus Müller
Es war – mal wieder! – eine derbe Klatsche, die der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, der schwarz-gelben Koalition verabreichte. Fast die ganzen fünf Minuten, in denen er das Urteil über die von CDU/CSU und FDP im Bundestag durchgedrückten Änderungen des Wahlrechts einleitete, schwang Ärger mit. Und es sah nicht so aus, als würde seine gesprochene Ohrfeige für die Regierungskoalition seinen Groll wenigstens ein paar Grad kühlen.
Das Ergebnis der nun einkassierten Wahlrechtsänderung sei „ernüchternd“, sagt Voßkuhle, was übereinstimmende Auffassung im urteilenden Zweiten Senat gewesen sei. Schärfer kann der Präsident eines Verfassungsorgans eigentlich kaum werden. Und das, obwohl er schon in der Anhörung vor sieben Wochen deutlich verärgert darauf hingewiesen hatte, dass das Wahlrecht das unverzichtbare Fundament der Demokratie sei. Er musste wohl noch mehr Dampf ablassen.
Natürlich ist das Wahlrecht keine einfache Sache, zumal in der deutschen Mischform aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht. Doch es ist noch einmal besonders bezeichnend, dass sich bei den jetzt für verfassungswidrig und sogar teils nichtig erklärten Regelungen die Regierungskoalition nicht mit der Opposition geeinigt hat. Sie hat es einfach durchgepaukt, was beim Wahlrecht eklatant den demokratischen Gepflogenheiten widerspricht. Und sogar damit war sie noch zu spät, hatte das Bundesverfassungsgericht doch schon 2008 das Wahlrecht für teilweise verfassungswidrig erklärt und binnen drei Jahren eine Neuregelung verlangt. Fünf Monate mehr ließ es auf sich warten. Darauf nur „ernüchtert“ zu reagieren, wie Gerichtspräsident Voßkuhle, lässt auf ein noch immer großes Gott- oder sonstiges Vertrauen schließen.
Wenn man nicht überhaupt an der Zurechnungsfähigkeit der Politiker aus der Regierungskoalition zweifeln möchte, dann muss man sich auch gleich wieder veräppelt vorkommen. Denn nach dem Urteil beginnt das alte Berliner Spiel: Die Verlierer erklären sich zu Siegern.
Da hat also eben das oberste deutsche Gericht eine Rechtsänderung gekippt – was bedeutet, dass es derzeit kein gültiges Wahlrecht gibt, das ja nur das unverzichtbare Fundament unserer Demokratie ist –, und trotzdem versuchen die Verursacher dieses Murkses, das Gegenteil daherzuplappern. Der – angebliche – FDP-Wahlrechtsexperte Stefan Ruppert hält die Änderungswünsche des Gerichts für – Achtung, kein Witz! – „technischer Natur und gut umsetzbar“ Der Unions-Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer kommt auf die tolle Idee zu twittern, „weite Teile“ des Wahlrechts seien nicht beanstandet worden. Einem Surfer, dem ein Hai den Kopf abgerissen hat, würde er wahrscheinlich sagen, dass weite Teile seines Körpers noch in Ordnung seien. Und der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP im Bundestag, Jörg van Essen, ist „außerordentlich zufrieden“ und schämt sich „kein bisschen“ für das für die Regierungskoalition doch eigentlich peinliche Urteil. Man muss der Frankfurter Rundschau ewig dankbar sein, dies in einem Interview für die Nachwelt festgehalten zu haben!
Solchen Leuchten sollen wir noch glauben, dass sie das mit den Euro – ach was, ganz Europa! – schon hinbekommen? Dass sie – jetzt aber mal wirklich! – etwas gegen die Neonazis tun? Mit einer – Vorsicht: Hammer! – Flexi-Quote die Frauen in die Führungspositionen der Wirtschaft schaufeln? Und nebenbei dem Wohle des deutschen Volkes dienen – und nicht etwa dem der Apotheker, Hoteliers, Steuerhinterzieher, Atomkraftkonzerne und Rüstungsschmieden?
Ohne Rücksicht regiert diese Koalition durch, wo immer es geht, auch wenn die Kanzlerin gerne etwas anderes behauptet. Erstaunlich – besser: ernüchternd – ist dabei, dass die Wähler offenbar nicht erkennen oder erkennen wollen, dass all diese kleinen Mosaiksteine des großen Murkses am Ende das Bild Angela Merkels ergeben. She is the boss! Möge ein neues Wahlrecht daran bald etwas ändern. Der mitklagende und erfolgreiche Verein Mehr Demokratie hat dazu gute Vorschläge. Sie würden die Ketten lockern, die alle Parteien zu ihren Gunsten um das Wahlrecht gelegt haben.
Dass aber ausgerechnet die jetzige schwarz-gelbe Truppe zu so viel Machtverzicht bereit wäre, ist so wahrscheinlich wie ein Hai-Alarm in der Spree. Man will überhaupt nicht genauer wissen, von welchem Respekt die Kanzlerin eigentlich redet, wenn sie nun verkünden lässt, sie nehme das Urteil mit eben solchem „zur Kenntnis“. Ist sie die Ober-Bürokratin dieses Landes, die die Ablage verwaltet? All die von den Richtern aus Karlsruhe einkassierten Entscheidungen der vergangenen Monate summieren sich inzwischen tatsächlich zu einer Staats- und Verfassungskrise. Und es drängt sich nicht gerade der Eindruck auf, dass die derzeit Herrschenden und Handelnden daran groß etwas ändern wollten, geschweige das Zeug dazu hätten.
Betrüblich daran ist: Ob es in einer anderen politischen Konstellation weniger ernüchternd zuginge, ist auch noch nicht raus. Hoffen wir, dass wenigstens die Damen und Herren Verfassungsrichter so ärgerlich bleiben, wie ihre Roben rot sind.
© Marcus Müller 07/2012