Italien – Chaos und Hoffnung

Von Katja Straubinger-Gloz

Politikblog debattiersalon | Gastautorin Katja Straubinger-Gloz © 2013 Das Bild in den Medien ist zurzeit verheerend, doch man macht es sich zu einfach, Italien auf ein bloßes Chaosland zu reduzieren. Sicherlich ist nach Dekaden zahlloser Korruptionsskandale und strafrechtlicher Verwicklungen von Politikern fast aller Parteien das Vertrauen der italienischen Bevölkerung in eine gewissenhafte Politik und anständige Politiker nahezu auf den Nullpunkt gesunken. Der Staat, die Regierung und ihre Schergen, so sagen viele, agieren am Bürger vorbei und entscheiden zuverlässig zu seinen Ungunsten. „Die wirtschaften doch nur in ihre eigene Tasche und erhöhen die Steuern, aber nichts wird besser“, höre ich oft. Es ist der Kontrast zwischen dem lähmenden bürokratischen und politischen Sand im Getriebe eines ganzen Landes, seinem Filz und seiner hinkenden Wirtschaft einerseits. Und andererseits seinen Menschen, die großteils für Solidarität, Fleiß, Lebensfreude, Kultur, und ein wieselflinkes Anpassungsvermögen stehen.

Dabei verfügt Italien über einen großartigen Mittelstand und äußerst engagierte Unternehmerpersönlichkeiten. Es sind diese kleinen und mittleren Betriebe, auf die sich die schleppende italienische Wirtschaft noch stützen kann. Hemdsärmelige Inhaber und deren Familien, die mit ungeheurem Fleiß ihre Firma voranbringen wollen und alles daran setzen, in diesen schwierigen Zeiten zu bestehen. Viele von Ihnen habe ich kennengelernt, und sie alle haben mich durch ihren Einsatz, ihren Weitblick, ihr Durchhaltevermögen und ihre Entscheidungskompetenz beeindruckt. So sehr Italien auch unter der verkrusPolitikblog debattiersalon | Italien - Ein Chaosland? | Gastkommentar Straubinger-Gloz | Foto: M. Müller © 2013teten Bürokratie und dem unzulänglich funktionierenden Staatsapparat leiden mag, in den mittelständischen Betrieben fallen unternehmerische Entscheidungen oft zügig und werden möglichst umgehend umgesetzt. Während ich selbst noch in typisch „germanischer“ Abwägemanier das Für und Wider einer Sache bis ins Detail beleuchten will, legen diese Unternehmer bereits los.

Der Mittelstand genießt Vertrauen

Wie die Inhaberin eines kleineren Weingutes, die Messen in Japan und Asien besucht, um für die Belieferung kommender Märkte gerüstet zu sein. Wie das Inhaberehepaar mehrerer Immobilienagenturen, das nach einem Zwölfstundentag die Kinder zu Bett bringt, um dann bis Mitternacht an wirkungsvollen Marketingmaßnahmen und der strategischen Ausrichtung in den Sozialen Medien zu tüfteln. Mir kommt der Nudelhersteller in den Sinn, der mit seiner Familie einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb führt und zudem fast jedes Wochenende auf irgendwelchen Regionalmessen ist, um seine hochwertige Pasta bekannt zu machen. In vier Jahren hat er knapp 300.000 Kilometer zurückgelegt. Ich denke an die Inhaberfamilie eines Produktionsbetriebes, die nach krisenbedingten Auftragseinbrüchen alles daran setzt, ihre schon jahrelang beschäftigten Arbeiter halten zu können. Auch die im Gegenzug starke Identifizierung der Arbeitnehmer mit dem Betrieb ist mir immer wieder positiv aufgefallen. Man bleibt sich bei guter Arbeit (und das gilt für beide Seiten) jahre-, wenn nicht jahrzehntelang treu.

Zweifel am Staat als neutraler Instanz

 Ohne die kleinen Handwerksbetriebe und Fertigungsstätten, in denen meist die gesamte Familie tätig ist, wäre Italien ebenfalls nicht denkbar. Die Leidenschaft fürs Produkt, die Sorgfalt, mit der es hergestellt wird und der unverrückbar hohe Qualitätsanspruch verbindet die meisten von ihnen. Was mich stets beeindruckt, ist der gelebte Servicegedanke gerade bei diesen kleinen und mittelständischen Unternehmen. Wenn notwendig, wird nach Feierabend oder am Wochenende gearbeitet. Auch abends um acht erhielt ich bei auftretenden Problemen noch telefonisch Antwort und es wurde nach Lösungen gesucht. Es ist genau diese Flexibilität, die das ganze Land auszeichnet und es überdies so krisenbewährt gemacht hat. Am Ende findet sich mit vereinten Kräften fast immer eine Lösung, auch wenn man diese vielleicht nicht schnurstracks, sondern lediglich im Zick-Zack-Kurs erreichen kann.

In vielen meiner Gespräche kam und kommt zur Sprache, dass sich der Großteil der italienischen Bevölkerung von seinem Staat und dessen Organen nicht gut vertreten fühlt. Umso mehr bezieht sich das Misstrauen nicht nur auf die Politik im Allgemeinen, sondern auch auf jede Art von Obrigkeit, Institution oder offiziell Weisungsbefugten. Die Bürger eines Landes, dessen Regierungen (Rekord: mehr als 60 Regierungswechsel nach dem Krieg!) jahrelang durch politischen Aktionismus statt bürgerfreundliche Reformen aufgefallen sind, haben jedes Vertrauen in einen Staat als neutrale Instanz verloren.

Aufräumarbeiten und Kungelbrüder

Die Liste des im Argen liegenden in Italien ist lang: Arbeitslosigkeit, Bildung, Innovation, Internationalisierung, Infrastruktur, Verschlankung und Effizienzsteigerung der Bürokratie, der Gesetzgebung und des Steuersystems. Nur scheint leider keine Regierung lange genug im Amt zu bleiben, um das große Ganze erfolgreich anzugehen. So wird Ex-Regierungschef Mario Monti zwar hoch angerechnet, sich überhaupt an diese ganz großen Aufräumarbeiten gewagt zu haben. Vorgeworfen wird ihm hierbei von vielen Bürgern aber, nur die Kleinen in den Würgegriff genommen zu haben. Der Filz, die Steuerhinterzieher, die Kapitalverschieber, das korrupte System, die Kungelbrüder, die unanständig hoch bezahlte Politikerkaste: Bei ihnen wurde in den Augen des Großteils der Bevölkerung nur ein wenig am Lack gekratzt. Öffentliche Ämter werden schon seit Jahren dazu missbraucht, sich zu bereichern sowie Pöstchen an die Familie und Bekannten-Entourage zu verteilen, während die allgemeine Kaufkraft eines ganzen Landes im Sturzflug begriffen ist.

Überhaupt, die Bürokratie! Sie erstreckt sich über das ganze Land und paralysiert mit ihrer ausufernden Reglementierung alles. Wer einmal Opfer der Allmachtsphantasien eines Sachbearbeiters in unkaputtbarer Position auf einem italienischen Amt geworden ist, weiß wovon ich spreche. Ich habe dort Stunden wartend verbracht, nur um dann wegen eines fehlenden Dokumentes von dannen geschickt zu werden, das vorher (wohlgemerkt bei identischem Procedere) nicht verlangt worden war.

Doch Italien ergibt sich nicht! Das soziale Auseinanderklaffen der Gesellschaft verbittert zwar viele, lässt aber seit langem auch den Wunsch entstehen, etwas zu tun und grundlegend zu ändern. Es entstehen Gegenbewegungen, die sich Gehör verschaffen: In Kampagnen weisen unter anderem erfolgreiche Unternehmer und Personen des öffentlichen Lebens offensiv darauf hin, wie wichtig reguläre Steuerzahlungen sind – um dem eigenen Land zu helfen und es zu stützen. Dem liegt, nebenbei bemerkt, die viel diskutierte Gretchenfrage zugrunde: Darf man denn die wenigen unternehmerischen Stützpfeiler einer schleppend funktionierenden Wirtschaft überhaupt weiter zur Ader lassen? Werden sie dann nicht ganz fliehen, die Firmensitze ins Ausland verlagern, weiteres Kapital verschieben und Entlassungen vornehmen? Schon heute schätzt sich doch jeder in Italien, der einen unbefristeten Arbeitsvertrag hat, glücklich – selbst wenn der Lohn oft nicht ausreicht, um sich und die eigene Familie anständig durchzubringen.

Die Familie als Sicherheitszone

Es liegt teilweise an all diesen Umständen, dass Familie und Freunde einen so hohen Stellenwert in Italien haben. Die Familie wird als letzte verlässliche Bastion empfunden, man zieht sich in die Sicherheitszone der kleinsten sozialen Einheit zurück, dorthin, wo die Obrigkeit keinen direkten Zugriff hat. Wo Beziehungen lange halten, man sich gegenseitig hilft und sich aufeinander verlassen kann. Es ist vor allem den Familien, den Eltern und den oft einspringenden Großeltern zu verdanken, dass die Kinder mit einem starken Selbstbewusstsein aufwachsen dürfen. An sich selbst und seine Fähigkeiten zu glauben, ist das beste Rüstzeug, sich später in einem instabilen Umfeld bewähren und gegen dessen Unwägbarkeiten behaupten zu können. Die Obrigkeit mag zwar systematisch und systemisch versagen, die Menschen tun es nicht.

Und es sind genau diese Menschen, die mich hoffnungsfroh stimmen: Letzte Woche stürzte ein betagter Signore im Supermarkt, riss viele Obst- und Gemüsekisten mit sich, Tomaten, Fenchel, Zucchini und Bohnen ergossen sich auf den Boden. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, da waren das gesamte Supermarktpersonal und zahlreiche Kunden zusammengelaufen, um dem alten Mann aufzuhelfen und ihn zu fragen: „Ma si è fatto male?“ Haben Sie sich wehgetan? Erst als alle den Mann sicher an die Kasse geleitet hatten, machte sich das Personal daran, das versprengte Gemüse wieder aufzusammeln und zu entsorgen. Es mag zwar einiges im Argen liegen in diesem Land, und von Italiens Schwächen kann man in diesen Zeiten und zu meinem persönlichen Verdruss im Übermaß in den Medien lesen. Italiens Stärken aber – die muss man selbst erleben! Es lohnt sich!

Katja Straubinger-Gloz hat jahrelang in Italien gearbeitet, zuletzt bis 2012 als Geschäftsführerin eines Luxusimmobilienbüros, sie lebt in Deutschland und Italien. Mit ihrem Mann betreibt sie mittlerweile den kulinarischen Blog Giuseppe & Fratelli, der demnächst um den Lebensmittel-Onlineshop Giuseppe & Fratelli – Honest Food erweitert wird.

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