Holocaust, ein alter Hut?

Von Marion Kraske

Holocaust-Mahnmal in Berlin | debattiersalon | Foto: © Marcus Müller 2012Das Datum sitzt: Deutschland gedachte dieser Tage wieder der „Reichspogromnacht“, jener unheilvollen Nacht, in der Synagogen und Geschäfte brannten, in der die Nazis und ihr willfähriger Mob alles kurz und klein schlugen, was jüdisch oder vermeintlich jüdisch war. Es war der krachende Auftakt zu einer Gewaltherrschaft, während derer rund sechs Millionen Juden ermordet wurden. An solchen Gedenk- und Feiertagen rafft sich die deutsche Öffentlichkeit auf, um an das dunkle Kapitel der Naziherrschaft zu erinnern. Man ruft ins allgemeine Bewusstsein, dass dieses Land einst antrat, Menschen in Herrschende und Untermenschen einzuteilen, Länder zu überfallen, Leben millionenfach auszulöschen.

Und darüber hinaus? Herrscht Ermüdung. Wie oft sitzt man mit Vertretern des sogenannten Bildungsbürgertums zusammen und vernimmt selbst hier immer wieder das gleiche Lied. Man könne es nicht mehr hören, irgendwann müsse ja auch mal Schluss sein. Die Tätergeneration habe gebüßt, nun aber sollten die Kinder und Kindeskinder mit dem ewigen Schuldgeheule in Frieden gelassen werden. Die Moralkeule, die Walser vor etlichen Jahren so wortgewaltig beschrie, hat sich in den Köpfen festgesetzt. Genug ist genug, so das ewige Mantra jener, die meinen, sie hätten, WIR alle hätten längst zu viel gedacht.

Mit Verlaub – das ist Unsinn. Dass wir nicht zu viel, sondern entschieden zu wenig des Holocausts und seiner verheerenden Folgen gedenken, wird allein schon durch folgende Zahl verdeutlicht: Jeder Fünfte unter 30 Jahren, so die Ergebnisse einer Studie, kann mit dem Begriff Auschwitz nichts anfangen. Ein Glanzstück unseres ach so tollen deutschen Bildungssystems. Es kann nicht einmal mehr vermitteln, warum unsere Geschichte nicht nur besonders, sondern auch besonders Menschen verachtend war. Und warum wir nie aufhören dürfen zu gedenken. Und nicht nur an fest gestanzten Gedenktagen, an denen das aufrechte Gewissen für einige wenige Stunden ritualisiert der Überdrüssigkeit des Gedenken-Müssens weicht.

Bedauerlicherweise ist die Genug-ist-genug-Haltung auf dem Vormarsch. Auch – und da erweist sie sich als besonders folgenreich – bei jenen, die Öffentlichkeit darstellen, den Medien. Am Beispiel der NSU-Aufarbeitung zeigt sich, warum. Da stürzen sich sämtliche Redaktionen der Republik auf die kleine, unheimliche Terrorzelle, auf das skandalöse Versagen der Sicherheitsbehörden, auf das Schreddern und Vertuschen jener, die eigentlich den Rechtsstaat vor extremistischen Strömungen schützen sollten. Darüber hinaus aber verabsäumt man es, zu analysieren, warum sich eine Terrorzelle überhaupt ausbilden konnte, warum eine Gesellschaft es zulässt, dass seit der Wende mehr als 180 Menschen Opfer rechtsextremer Gewalt wurden. Warum Alltagsrassismus und Antisemitismus in dieser angeblich so aufgeklärten Gesellschaft zunehmen. Warum gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im Aufwind ist und diese Demokratie gefährdenden Ideologien in die Mitte der Gesellschaft gesickert sind.

Der Nationalsozialistische Untergrund ist nur eine Ausprägung des Rechtsextremismus in Deutschland, er ist seine radikalste Variante. Die rechtsextremen Einstellungen in unserer Gesellschaft aber sind weitere Spielarten, mit denen wir uns auseinander setzen müssen. Genau diese Transferleistung aber wird nicht erbracht. Und damit wären wir wieder beim Gedenken.

Wenn wir unser Gedenken nur noch an festen „Gedenktagen“ mit mehr oder minder starker Überzeugung zelebrieren, ohne auch in der übrigen Zeit die Lehren für das Heute zu ziehen, wird dem Staat ein wichtiger Schutzmechanismus gegen Extremismus geraubt. Ohne ein kontinuierliches Erinnern wird sich nicht vermitteln lassen, was wir aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen können. Es wird nicht gelingen, klar zu machen, dass die Prozesse in der Mitte der Gesellschaft in enger Verbindung mit der Terrorgruppe NSU stehen. So aber werden wir das Problem des Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft nicht lösen. So lange es diese Umtriebe gibt, ist eben noch nicht genug geschrieben und berichtet worden, werte Kollegen. Als ich jüngst einer Zeitung eine Reportage über den Holocaustüberlebenden Thomas Geve aus Haifa vorschlug, der als Kind die Vernichtungslager der Nazis überlebte und heute drei mal im Jahr nach Deutschland kommt, um vor Schülern über diese unselige Zeit zu bereichten, schrieb der zuständige Redakteur in seiner Antwortmail: Das Thema sei doch „ein alter Hut“. Bis zum nächsten ritualisierten Gedenktag wird – so oder so – erst einmal nicht mehr gedacht.

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Eine Antwort auf Holocaust, ein alter Hut?

  1. dr.friedrich schreyer sagt:

    Marion, danke für diesen Artikel – es tut einem immer wieder gut, dass es Menschen gibt, die die Realität genauso wahrnehmen wie man selbst! friedrich