Frankreich braucht dringend Bürger!

Von Sebastien Martineau

debattiersalon | Frankreich braucht Bürger! | Wahlplakat Front-National Frankreich Europawahl EUMeine deutschen Freunde waren ratlos, als sie vor einigen Monaten von den Demonstrationen gegen die Homoehe in Frankreich hörten und lasen. Wie kann das sein? In dem Land der Liebe, der Kultur. Was ist aus den hehren Grundsätzen des „Liberté, égalité, fraternité“ geworden?

Nach dem gestrigen Urnengang guckt nun ganz Europa Richtung Frankreich und stellt sich die gleiche Frage. Was ist los mit dem Land der Aufklärung? Aber Europa ist nicht nur ratlos, sondern vor allem eins: geschockt.

Der Front National, diese rechtsextreme und antisemitische Partei, gilt also vielen als Antwort. Aber als Antwort wofür? Die Arbeitslosigkeit im Land ist kaum vergleichbar mit der von Griechenland oder Spanien. Jedoch sind in diesen Ländern die Rechtextremisten (eine Beschreibung die von Marine Le Pen, der neuen Gallionsfigur des Front National, bestritten wird) bei weitem nicht so stark wie in Frankreich.

Eine Sache muss klar gesagt werden: Der Front National ist gefährlich! Diese Partei würde, wenn sie an die Macht käme, die Pressefreiheit einschränken, die politische Vielfalt in Frage stellen. Und Polizei und Armee für ihre eigenen Ziele benutzen. Der Abbau demokratischer Grundsätze ist tief in ihrer Identität verankert. Wie viele aber der französischen Wähler sind sich dessen bewusst? Nicht viele, so scheint es. Andernfalls ist die Tatsache, dass der Front National gestern stärkste Kraft wurde, noch vor den Sozialisten, wohl nicht zu erklären.

Verschwörung der „Elite“

Politblog debattiersalon | Gastautor Sebastien Martineau über Frankreich, die Europawahl und den Front National, EU | Foto ©Die Verantwortung der Regierungsparteien ist groß: Denn die stärkste politische Waffe des Front National ist seine Rhetorik über das nationale Wahlsystem und über seine vermeintliche Instrumentalisierung durch die etablierten Parteien.

Die Europawahl ist der einzige Urnengang, bei dem man in Frankreich proportional wählen darf. Sonst ist immer der Sieg im lokalen Bezirk bzw. des Hauptkandidaten entscheidend. Bislang hat es die Partei der Familie Le Pen frankreichweit bis auf wenige Ausnahmen allerdings nicht geschafft direkte Mandate zu erlangen.

Der Front National ist seit 30 Jahren ein wichtiger politischer Akteur im französischen Parteienspektrum. Er hat allerdings fast nie den Sprung ins Parlament geschafft. Aus dieser Außenseiterposition heraus konnte er seine Wähler peu à peu davon überzeugen, dass die „Elite“ (Journalisten, Intellektuelle und etablierte Parteien) sich zusammengetan hatte, um den FN von der Macht fernzuhalten.

Zum Vorteil für Regierungsparteien

Innenpolitisch hat der Front National lange die Interessen der beiden Großparteien bedient. So lange eine breite Masse an Wählern Angst hatte, den FN zu stärken, haben sie immer wieder für sie gewählt: für den „Parti socialiste“ von Mitterrand, Jospin und heute Hollande, und den UMP von Chirac und Sarkozy. Immer dann, wenn sich mal ein Außenseiter anschickte, sich auf der politischen Bühne zu etablieren, verhinderte die Angst vor dem Front National seinen Erfolg. Denn eine Stimme für den Neuankömmling, und somit eine Stimme weniger für die großen Parteien hätte schon wieder dem FN in die Hände spielen können. Ein frischer Wind blieb aus, und der Außenseiter blieb Außenseiter.

So ist es auch mit „Europe Écologie“ geschehen – der politischen Bewegung von Daniel Cohn-Bendit und der ehemaligen Richterin Eva Joly, die inzwischen mit den Grünen („Les Verts“) fusioniert hat.

Viele die von den großen Parteien, vor allem von den Sozialisten enttäuscht waren, haben diesen neuen Akteur als seriöse Alternative gesehen. Im Jahr 2009 (Europawahl ca. 16%) und 2010 (Regionalwahl ca. 12%) wurden gute Ergebnisse erreicht. Aber als die Präsidentschaftswahl 2012 kam, erinnerten die Umfragen daran, dass der FN noch immer stark war.

Also haben viele, auch ich und viele meiner Bekannten, die Entscheidung getroffen, mit unseren Stimmzetteln einen Durchbruch des FN zu verhindern. Jean-Marie Le Pen, der Vater der FN Kandidatin, hatte ja im Jahr 2002 der Stichwahl der Präsidentschaftswahl erreicht. Die Kandidatin Eva Joly hat entsprechend nur 2,3% erreicht…

Wer erklärt noch die Welt?

Das starke Abschneiden des Front National hat auch viel mit dem Versagen der Regierungsparteien, ob links oder rechts, zu tun. Sie haben es in den letzten Jahren nicht vermocht, die Finanzkrise mit all ihren Erschütterungen zu erklären. Wofür aber sind dann Parteien da, zumal, wenn sie in Regierungsverantwortung stehen? Nach sechs Jahren Krise (oder sind es 40?), haben sie es nicht geschafft, eine Interpretation davon zu liefern, welche Lehren aus den Erschütterungen zu ziehen sind. Und sei es nur die Erkenntnis, dass nur ein Zusammenhalten auf europäischer Ebene – wie etwa im Falle Griechenlands – eine stabilisierende Wirkung entfalten kann.

Als sich die Finanzkrise Bahn brach, war die „Parti socialiste“ dabei – gegen ihre eigenen Werte – neoliberale Theorien zu verinnerlichen. Diese Entwicklung wurde teilweise gestoppt. Aber eine neue wirtschaftspolitische Linie hat die PS bis heute nicht gefunden.

Der UMP ihrerseits ist überzeugt, dass die Wirtschaft der maßgebliche Faktor im Lande ist. Nicht zuletzt deshalb hat man sich unter der Präsidentschaft Sarkozy darauf konzentriert, den öffentlichen Dienst zu schwächen und vor allem im Bildungs- und Rentenbereich zu sparen.

Erklären? Die Medienpräsenz ist zu kostbar: Lieber redete man über Einwanderer und die grenzenlose Unsicherheit der Bevölkerung. Und legte so den Nährboden für Ängste und Ressentiments, die der Front National nun treffsicher abgreifen konnte.

Das Personal der etablierten Parteien ist ein weiteres Problem: Die meisten Akteure beider Großparteien waren schon Anfang der 80er Jahren im Politikbereich aktiv. Die einzige Vertreterin der Regierung, die zurzeit Charisma und politische Intelligenz beweist, ist Justizministerin Christiane Taubira. Sie aber ist kein Mitglied der Parti socialiste, sondern gehört einer kleine Partei aus Französisch-Guayana an, die der Radikalen Linkspartei (PRG) zugeordnet ist.

Klassenkampf ist so „passé“

Wer erklärt also noch die Welt? Die Ungleichgewichte in der Gesellschaft? Die Alternative, die bis Anfang der 80er von der Kommunistischen Partei dargestellt wurde, ist delegitimiert, insbesondere bei den Sozialisten. Über „Klassenkampf“ darf man nicht mehr reden. Er ist „passé“.

Die meisten FN Wähler sind wenig qualifizierte Arbeiter. Viele von ihnen (oder ihre Eltern) haben früher für die Kommunisten gewählt. Doch nun gibt es den Klassenfeind nicht mehr. Und: Wo soll man einen neuen Feind finden? Da ist die Lösung nicht fern: Die Einwanderer. Die Jobklauer. Die fremdländisch Aussehenden. Der Boss von Total oder Areva verdient Millionen? Egal, mein Nachbar aus Algerien oder Rumänien ist schuld! So einfach und so schlicht sind die Mechanismen.

Besessen von der Krise

Wer erklärt noch, dass Frankreich eines der reichsten Länder der Welt ist? Ein Land, in dem man der Justiz mehr oder weniger vertrauen kann? Ein Land mit Renten, Sozialversicherung, Schulen, Krankenhäusern, funktionierender Infrastruktur.

Zugegeben, es gibt Probleme. Aber wenn man sie nicht in Frankreich lösen kann, wo denn?

Wie wär’s wenn die Leute sich endlich als Bürger wahrnehmen würden? Und nicht als Kunden von Profi-Politikern, die sowieso irgendwann Ärger mit der Justiz kriegen werden – der ehemalige UMP-Innenminister Claude Guéant wurde vor kurzem infolge eines Betrug-Skandals in Polizeigewahrsam genommen, Ex-Präsident Sarkozy ist in mehrere Justizverfahren verwickelt, und auch die Sozialisten blieben nicht verschont: Jérôme Cahuzac musste 2013 seine Stelle als Haushaltsminister wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung zurückgeben.

Jenseits dieser Ausschweifungen ist Politik im Grunde ein seriöses Geschäft – allerdings sollte dies von beiden Seiten so gesehen werden. Politik sollte mit Ernsthaftigkeit betrieben werden, von den Politikern und auch von jenen, die ihr demokratisch verbrieftes Wahlrecht ausüben. Denn es ist nicht nur ein Grundrecht, wählen gehen zu können, es ist auch ein Auftrag. Das aber muss das Wahlvolk erst noch begreifen.

Sich als Bürger endlich ernst nehmen

In Frankreich kann man immer wieder Argumente hören wie „Es ist schon der dritte Wahltermin in diesem Jahr, die Wähler sind müde“. Müde, Bürger zu sein?! Weil man drei Mal nach seiner Meinung gefragt wird? Viele haben kein Problem, außerhalb des Wahllokals ihre Meinungen über Israel, Italien oder Mali zu äußern. Und sie jedem laut zu erzählen. Aber wählen zu gehen soll dann allzu erschöpfend sein?

Der Wähler Frankreich ist ein lustiger Kerl. Er kann 2006 für die Sozialisten wählen, dann für die Konservativen, dann für die Grünen, dann für den Front National. Ohne sich je zu fragen, ob dieses Wahlverhalten demokratiepolitisch sinnvoll ist. Denn am Ende ist diese Form der Stimmabgabe vor allem eines nicht: Nämlich lustig. Frankreich braucht bestimmt eine neue Generation von Politikern. Sie braucht aber dringend auch neue Bürger!

Zum Schluss, ein trauriges Beispiel, das das derzeitige Dilemma einer nicht aufgeklärten Bürgerschaft verdeutlicht: In Souvigny-en-Sologne, im Zentrum Frankreichs, leben knapp 500 Einwohner. In diesem Dorf bin ich aufgewachsen. Es ist ein ruhiges Dorf, mit einer kleinen pittoresken Schule, einer Post, einer Bäckerei, einer Autowerkstatt, einer Kneipe. Auf der Straße grüßt man sich noch persönlich – „Bonjour“ – und die Leute antworten „Bonjour“. Es gibt nicht viel Arbeit, nein. Man muss oft 40, 60 oder 80 km bis zum nächsten Arbeitsplatz fahren. Und dennoch ist das Leben in Souvigny-en-Sologne noch in Ordnung. Es gibt ein gewisses Maß an Lebensqualität, ein Gefühl von Sicherheit.

In diesem Dorf hat sich meine Identität als weltoffener – hoffe ich – Franzose und Europäer entwickelt. Ich habe von der „école républicaine“ profitiert. Hatte nie Angst vor der Zukunft oder vor Angriffen, geschweige denn vor Arbeitslosigkeit. Ich habe die Einwohner meines kleinen Städtchens nie als ausländerfeindlich wahrgenommen. Am Wahlsonntag haben sich in Souvigny-en-Sologne von 217 Wählern 64 für den Front National entschieden.

Sebastien Martineau ist freier Journalist und Autor, geboren in Frankreich, Europäer in der Praxis. Nach einem Aufenthalt in Italien lebt und arbeitet er seit 2010 in Deutschland. Martineau ist ehemaliger Redakteur und Autor der Afrika-Abteilung der Deutschen Welle, jüngst kehrte er von einer dreimonatigen Afrika-Reise zurück, die ihn von Dakar nach Kapstadt führte.

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