Festung Deutschland: Kein schöner Land

Von Marion Kraske

Die jüngsten Flüchtlingskatastrophen vor Lampedusa haben gezeigt, dass etwas nicht stimmt mit diesem Kontinent. Europa – Friedens-Nobelpreisträger 2012 – schottet sich an seinen Außengrenzen auf mörderische Art und Weise ab, mit der Folge, dass das Mittelmeer immer mehr zum hotspot wird, an dem ein ungleicher Kampf geführt wird. Das hochgerüstete, reiche Europa gegen das unterprivilegierte Afrika.

Die Toten der letzten Wochen legen den traurigen Schluss nahe, dass der EU Menschenleben augenscheinlich weniger wert sind als die wie eine Monstranz hochgehaltene Sicherheit vor weiteren Flüchtlingszuzügen. Nach den fast 300 Toten Anfang Oktober kamen nur wenige Tage später fünf Flüchtlingsboote mit zusammen mehr als 500 Migranten an Bord in Seenot. EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström erklärte, sie habe mit “Trauer und Sorge” die Rettungsoperationen verfolgt. “Diese erneuten schrecklichen Ereignisse geschehen, während wir noch die Tragödie von Lampedusa vor Augen haben.”

Und dann? Schreckte jener Kontinent, der soeben noch vom Nobelkomitee für seine friedensstiftende Geschichte ausgezeichnet wurde, nicht davor zurück nach den jüngsten Ereignissen neue Maßnahmen auf den Weg zu bringen, um die Kontrollen an den Grenzen noch weiter zu verschärfen. Zynischer geht es kaum.

Nun sind in der Nacht neuerlich hunderte Flüchtlinge aufgegriffen, wieder Menschen aus Seenot gerettet worden. Angesichts solcher Entwicklungen stellt sich die Frage: Wie soll es weiter gehen? Wollen wir die EU weiter zur uneinnehmnbaren Festung hochrüsten? Sind das die Werte, auf denen wir Europäer uns bewegen wollen: Separation statt soziales Denken? Engstirnigkeit statt Empathie? Abschreckung statt Aufnahme?

Deutschlands moralische Pflicht

EU-Vertreter haben jüngst – zurecht – vor allem Deutschland aufgefordert, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl steht Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen in der Tat alles andere als gut da: Zahlreiche Länder, darunter Schweden, Dänemark und Luxemburg nehmen unweit mehr Schutzsuchende auf als als das Land, das wie kein anderes aufgrund seiner besonderen Geschichte, der millionenhaften Verfolgung und Vertreibung im NS-Reich, die moralische Pflicht besitzt, in diesem sensiblen Bereich vorbildhaft zu agieren. Kein Land müsste die Sorgen und Nöte von Flüchtlingen besser verstehen als Deutschland.

Davon allerdings ist dieses Land weit entfernt: Nach Einschätzung von Pro Asyl ist Deutschland zwar kein Hardlinerstaat bei den Asylverfahren im eigenen Land. Indes: Bei den Versuchen, an der EU-Politik etwas zu ändern, habe die Bundesregierung in jüngster Zeit stets gebremst.

Politische Nicht-Akzeptanz von gesellschaftlichen Realitäten

Doch nicht nur im Asylbereich, auch bei der übrigen Zuwanderungspolitik ist das Verhalten Deutschlands von Versagen charakterisiert. Der renommierte Migrationsforscher Klaus J. Bade konstatiert: „Die ‘Ausländerpolitik’ in der Bundesrepublik war lange gekennzeichnet durch politische Nichtakzeptanz von gesellschaftlichen Realitäten, durch parteiübergreifende defensive Erkenntnisverweigerung und allgemeine Konzeptionslosigkeit bei mangelnder Einsicht in die Ressortfähigkeit der Problem- und Gestaltungsbereiche von Migration, Integration und Minderheiten.“

Wie lange die Verdrängung und Ausblendung seitens der Politik andauerte, bewies Angela Merkel noch im Jahr 2010, als sie erklärte, Multi-Kulti sei tot. Allein der Blick in die Fußballnationalmannschaft der Männer genügt, um diesen Unsinn zu widerlegen. Ein Blick in Freundes- und Kollegenkreise ebenso. Ist es nicht auf Parties stets so, dass man zusammen steht und feststellt, dass der eine balkanische Wurzeln, der andere polnische, wieder ein anderer italienische Ursprünge hat, der letzte schließlich Verwandte in den Niederlanden? DAS ist die gesellschaftliche Realität in Deutschland, ob das konservativen Stimmungsmachern nun passt oder nicht.

Doch da wären noch andere Realitäten, jene, die davon zeugen, wie inhuman Deutschland an seinen Grenzen mit Menschen umgeht, die hierzulande leben (und ja auch arbeiten!) wollen.

Familiennachzug nach Gutdünken

Vor einigen Tagen in der Visa-Stelle der deutschen Botschaft in Moskau: Neben mir steht ein Mann, Nickelbrille, gesteppte Jacke, gepflegte Erscheinung. Der Verzweiflung nahe. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Wochen sei der Visumsantrag für seine Frau und sein Kind abgelehnt worden, erzählt er. Ich nicke, wie abwesend. Dann sagt er den Satz, der mich aufhorchen lässt: Dabei sei er Deutscher, zwar in Moskau geboren, habe aber einen deutschen Pass. Er lebe und arbeite in fester Anstellung in Berlin.

Ich frage nach: Sie sind Deutscher? Ja, sagt der Mann, seit einigen Jahren schon. Und haben einen Job? Ja, ich bin Jurist. Und erhalten kein Visum für Ihre Familie? Nein. Gibt es nicht so was wie Familienzusammenführung? Der Mann sagt: Eigentlich ja, nicht aber für uns.

In diesem Moment schäme ich mich, für dieses von einer “Christen”partei regierte Land, der die Familie doch angeblich immer so heilig ist. Und fange an zu recherchieren: Auf der Seite des Auswärtigen Amtes findet man zum Thema folgendes:

Familiennachzug zu Deutschen

Sie haben einen gesetzlichen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, wenn Sie
• Ehegatte eines Deutschen oder
• minderjähriges, lediges Kind eines Deutschen oder
• ein Elternteil eines minderjährigen, ledigen deutschen Kindes sind, für das Sie die Personensorge ausüben und
• Ihr deutscher Familienangehöriger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, also hier lebt.
Sind Sie für Ihr minderjähriges, deutsches Kind nicht sorgeberechtigt, kann die Ausländerbehörde Ihnen die Aufenthaltserlaubnis erteilen, wenn Sie mit Ihrem Kind schon in einer familiären Gemeinschaft – das heißt als Beistands- und Betreuungsgemeinschaft – in Deutschland zusammenleben.

Sie müssen in der Regel nicht nachweisen, dass Ihr Lebensunterhalt gesichert ist.

Das hieße: Der Deutsche mit russischen Wurzeln, der dauerhaft mit seiner Familie zusammen leben will, hat offenbar Pech gehabt. Zwar sehen die Bestimmungen im Prinzip einen Familiennachzug vor, eine Gewähr dafür gibt es aber nicht. Immer wieder, so heißt es bei Pro Asyl, würden mit der Begründung angeblich fehlender Sprachkenntnisse Visa für direke Familienangehörige verweigert. Wohlgemerkt: In diesem Falle ging es nicht um die so oft gescholtenen angeblichen „Wirtschaftsflüchtlinge“, sondern um eine gut situierte Akademikerfamilie. Die Frau, eine Journalistin, will an einem Sprachkurs in Berlin teilnehmen, um in der Hauptstadt mit Mann und Kind ein gemeinsames Leben zu führen. Diese Willensbekundung aber reicht deutschen Bürokraten nicht aus. Sie beklagen die mangelnden Sprachkenntnisse – und das bei einer Frau, die in Windeseile Deutsch lernen würde. Und nehmen damit in Kauf, dass das Kind der Eheleute ohne seien Vater aufwächst. Was für ein erbärmliches System!

Deutschland bremst auch EU-Familiennachzug

Gerade beim Thema Familienzusammenführung zeigt sich, wie borniert deutsche Behörden immer wieder verfahren, um die geliebte Festung zu verteidigen: Bereits 2011 tadelte die EU-Kommission, dass Deutschland selbst beim Zuzug von EU-Bürgern zu strikt verfahre und Verwandten den Nachzug verwehre – ein Verstoß gegen die Personenfreizügigkeit innerhalb der Union.

Mit dieser Haltung beweist Deutschland, dass es seine geschichtliche Verpflichtung aus den Augen verloren hat, dass ihm der Kompass der Humanität abhanden gekommen ist. Egal, ob eine Akademikerfamilie, die am gemeinsamen Leben gehindert wird, oder der Bootsflüchtling, der in den Fluten des Mittelmeeres ersäuft, weil er zu Hause keine Perspektive hat. Beide sind Opfer einer wahnhaften Abschottung, die den selbst formulierten Ansprüchen der “zivilisierten” westlichen Welt, die sich sonst gerne ihrer geistig-moralischen Überlegenheit rühmt, kaum gerecht wird.

Migrationsforscher Bade bringt die (deutschen) Unzulänglichkeiten in der Ausländerpolitik so auf den Punkt: „Eine durch konzeptionelle Abstinenz in Einwanderungsfragen gekennzeichnete Ausländerpolitik und eine durch die Angst der Parteien vor dem Bürger als Wähler bestimmte Asylpolitik haben beigetragen zur Emotionalisierung der öffentlichen Diskussion, zu Protesthaltungen, Politikverdrossenheit und Antiparteienaffekten. Im Wechsel von politischen Ersatzhandlungen, populistischen Stellvertreterkriegen, Bedrohungsvisionen (‘neue Völkerwanderungen’) und Denunziationen der Opfer als Täter (‘Wirtschaftsflüchtlinge’) wuchsen Abwehrmentalitäten und diffuse Fremdenfeindlichkeit.“

So jedenfalls darf es nicht weiter gehen. Der Festungsgedanke muss aufgegeben, eine geistig-moralische Wende eingeleitet werden, um – ganz wie bei der Atompolitik – die jahrzehntelangen Fehlentwicklungen zu revidieren. Immerhin: Es gibt bereits Stimmen wie die des niedersächsischen Innenministers, zugleich Vorsitzender der deutschen Innenministerkonferenz, Boris Pistorius, die eine humanere Vorgehensweise in der Ausländerpolitik fordern: Die Hürden für qualifizierte Zuwanderer sollten abgebaut, für die Flüchtlingsproblematik eine „gesamteuropäische Lösung“ gefunden werden. Will heißen: Länder wie Italien und Spanien, die an den Außengrenzen die Hauptlasten der Flüchtlingszuwanderung tragen, müssten von den übrigen Staaten unterstützt werden. Fragt sich nur, ob eine Unions-geführte Große Koalition zu diesem dringend notwendigen Schritt bereit ist.

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