Europa ist tot, es lebe Europa!

Von Marion Kraske

Von Untergang war die Rede, von einem Zerbersten des Euro (wahlweise ganz Europas), Italiens Ministerpräsident Mario Monti beschrie theatralisch gar die Hölle. Im Vorfeld des EU-Gipfels regierte die Hysterie. An medialen Entgleisungen durfte es ebenfalls nicht fehlen: Da wurde Angela Merkel zum eiskalten Engel stilisiert, zum zweiten Hitler, die mit ihrem vermeintlichen Sparwahn nicht nur Europa, nein gleich die ganze Welt in eine Depression stürzt. Apokalypse pur. Europa – so gut wie tot!

Nun, nach dem Gipfel, glätten sich die Wogen allmählich. Wo eben noch der Abgrund beschrien wurde, kehrt – vorerst zumindest – Normalität ein. Emotionale Abkühlung vor allem. Und bemerkenswert: Alle feiern einen Sieg. Die Südländer triumphieren, weil sie die rigiden Sparvorgaben der Nordländer – allen voran Deutschlands – aufweichen konnten. Und auch die Nordländer, angeführt vom vermeintlich aggressiven “Terminator” namens Merkel, sind zufrieden, weil sie dazu beigetragen haben, den Euro zu retten. Apokalypse war gestern. Europa ist reanimiert!

Und doch haben die letzten Wochen vor allem eines gezeigt: Wenn es um Europa geht, geht es zur Zeit fast ausschließlich ums liebe Geld. Der Euro, die Steuern, die Schulden, Finanzkrise, Sparen versus Kaputtsparen, die Bösen und die Guten – und kaum mehr haben die Bürger das Gefühl, dass sie bei all dem noch mitkommen. Eben noch tiefdepressive Verstimmung, Katastrophe, jetzt strahlender Optimismus. Ohnehin ist die Schuldenkrise vor allem eine Vertrauenskrise. Kaum mag man glauben, dass die Verantwortlichen selber noch durchblicken, zu dissonant der Chor der Meinungen, zu konträr die Lösungsansätze. Für sinnstiftende Momente jenseits der Eurodebatte bleibt ohnehin nicht viel Raum. Der Euro als Synonym für die gesamte Union. Ohne die gemeinsame Währung gäbe es kein Europa. So lautete die einfache wie platte Losung der politischen Entscheidungsträger.

Doch stimmt das auch? Entzaubern die politisch Verantwortlichen mit dieser eindimensionalen Sichweise nicht das gesamte europäische Projekt? Ist Europa nicht längst mehr als ein schnödes Zahlungsmittel? Ist es nicht ein eigenständiger Identifikationsrahmen? Ein gesellschaftspolitischer Resonanzkörper, in dem sich die Menschen begegnen, wie selbstverständlich, in der sich die nationalen Identitäten aufeinander zubewegen, mitunter gar auflösen?

Europa, das sind für mich Momente, wenn wie dieser Tage zwei dänische Studenten kurz vor Hamburg übermüdet in unserem Auto stranden – lange Tage und vor allem Nächte in Amsterdam liegen hinter ihnen. Nun soll es per Autostop nach Hause gehen. Europa, sagt der eine mit Blick auf die neue, europafreundlichere Regierung daheim, werde in Dänemarks Politik jetzt wieder positiv angegangen. Das, so der junge Anhalter, der in Kopenhagen deutsche Literaturwisssenschaften studiert, solle gefälligst auch so bleiben.

Europa, das sind Momente, wenn es wie dieser Tage gen Süden geht, ohne Kontrollen, über die Grenzen der Nachbarländer und deren Nachbarländer, Österreich, Slowenien, Italien, wenn Europa grenzenlos erscheint, die ehemaligen Grenzstationen sehen dann aus wie trostlose Relikte aus einer anderen Zeit, offen wirkt Europa dann, großzügig, weltmännisch statt kleinstaatlerisch.

Zwar ist auf den Reisen durch die Nachbarländer noch immer spürbar, dass wir lieben Europäer nach wie vor lausige Sprachmuffel sind, nur allzu oft ist Englisch der gemeinsame Nenner, und doch ist im Alltag ein weit verbreiteter europäischer Gemeinsinn zu spüren. Jene, die heute aufwachsen zwischen Barcelona, Berlin und Tallin, sind waschechte Europäer, geprägt von einem gänzlich anderen Bewusstsein als wir, die wir mit einem Gefühl der räumlichen Begrenztheit und Bedrohung leben mussten, als der Horizont nicht weiter reichte als bis zur Berliner Mauer und dem „Feind“ jenseits der Grenzen. Heute dagegen, scheint der gesamte Kontinent zusammengerückt: Unsere Tochter ist eine gebürtige Wienerin. Freunde und Bekannte, mit den unterschiedlichsten Wurzeln in den verschiedenen europäischen Städten beheimatet – alle vereint in einem gemeinsamen Projekt namens Europa.

Europa, das sind Momente in einer kleinen Kirche in Istrien, wenn alle auswärtigen Gottesdienstbesucher in der Landessprache begrüßt werden. Neben den Kroaten, die aufgrund der wechselvollen Geschichte des Landstriches oft drei Sprachen sprechen, stehen Österreicher, Deutsche, Italiener. Überhaupt das ehemalige Jugoslawien, wo bis vor wenigen Jahren ein blutiger Bürgerkrieg das Land zum Zerbersten brachte: Der zerfallene Vielvölkerstaat zeigt prototypisch auf, wofür Europa eigentlich steht – für ein jahrzehntelang gewachsenes Friedensprojekt. Europa als Synonym für dauerhaften Frieden und Freiheit, ein Katalysator für die unumstößliche Stabilisierung eines Kontinents, der sich bis dahin in Krieg und Vertreibung übte.

Die kriegerische Zerrissenheit zu überwinden – das ist die historische Leistung Europas. Und sie ist keineswegs beendet: Slowenien ist bereits Mitglied der EU, Kroatien tritt im nächsten Jahr bei. Serbien und Bosnien-Herzegowina sollten alsbald folgen, nur so lässt sich der Stabilitäts- und Demokratisierungsprozess in der letzten Krisen-Region Europas festigen. Die Mitgliedschaft ist für sie ein wichtiger Anker, um die aggressiven Nationalismen, die nach wie vor das Zusammenleben erschweren, zu eliminieren. Um der Jugend auch in dieser Region deutlich zu machen: Neben dem ethnischen Hass und blindwütigen Nationalismus gibt es eine andere, richtungsweisende Kategorie – unter einem gemeinsamen europäischen Dach lässt sich eine friedliche Zukunft aufbauen.

Der Geist Europas ist – Schuldenturbulenzen hin oder her – ein friedlicher, ein einigender. Auch dafür stehen die Ergebnisse vom jüngsten EU-Gipfel. Sie stehen für Kompromissfähigkeit, für einen gemeinsamen Weg, allen Schwierigkeiten zum Trotz. Europa lebt!

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