Empört Euch – lautstark und massenhaft

Von Siegesmund von Ilsemann

Auch Schneeweißchen und Rosenrot standen am späten Samstagnachmittag auf dem Berliner Platz der Republik zu Füßen des kuppelbewehrten Reichstags, hatten die Edelboutiquen im Zentrum der Hauptstadt links und rechts liegen gelassen, waren nicht in zum Aperitif in eine der einladenden Bars eingekehrt, die ihren Weg säumten. Dabei hätte man die beiden in ihrer attraktiven Eleganz viel eher auf dem Weg zu einem coolen Event der hippen Berliner Party-Szene vermutet als zur Protestaktion gegen die Bankenkrise, zu der Attac und andere Organisationen am vorigen Samstag zwischen Kanzleramt und Bundestag aufgerufen hatten. Weltweit versammelten sich an diesem Tag Hunderttausende, vielleicht Millionen in mehr als 950 Städten von über 80 Staaten zu Protestaktionen.
Schneeweißchen, eine kluge, nachdenkliche Literaturkritikerin, und Rosenrot, die eloquente junge Yoga-Lehrerin mit den perfekt geschminkten roten Lippen unter dem frisch gestylten pechschwarzen Pagenkopf schienen so gar nicht zu passen in diese bunte Schar von Menschen, unter denen ein paar Nackte für ihr „Forest-Fuck-Fest“ warben, ein irisches Musik-Duo seinen Protest in den Rasen steppte, während 5000 eher ratlose Demonstranten auf dem Rasen herumstanden oder saßen. Und dennoch waren die beiden jungen Damen fast prototypisch für eine Versammlung, in der neben dem alt gewordenen Anti-Atom-Aktivisten auch der gutbetuchte Pensionär stand, zwischen durchgeknallten Nachwuchs-Hippies Hausfrauen, Eltern mit ihren Kindern, Gutverdiener und Arbeitslose saßen.
Es waren nicht so viele gekommen, wie Schneeweißchen und Rosenrot erwartet, erhofft hatten. Aber die heterogenen Gruppen die in Berlin und anderen Orten der Republik, Europas, ja überall auf der Welt zusammenkamen, einte der eine Gedanke, der auch die Literaturkritikerin und ihre Yoga-Freundin auf den Platz der Republik getrieben hatte:
„Es kann so nicht weitergehen. Irgendetwas muss geschehen.“
Vielleicht gab das Beispiel Islands oder das dünne Heftchen eines 94jährigen Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald im vorigen Jahr den Anstoß dazu, dass die Welle der Bürgerproteste gegen das empörende Versagen der Politik angesichts der menschenverachtenden, ja kriminellen Auswüchse unseres kapitalistischen Finanz- und Wirtschaftssystem nach Madrid die New Yorker Wallstreet erfasste und von dort immer mehr Metropolen in den westlichen Industrienationen erreicht. Gewiss hätte es Stéphane Hessels flammender Appell „Empört Euch!“ verdient, dass ihm mehr Bürger Folge leisten. Es besteht gleichwohl kein Anlass für die hämische Schlagzeile „99 Prozent blieben zu Hause“, mit der Spiegel-Online das New Yorker Schlagwort „99 percent“ persiflierte, welches daran erinnern soll, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Gier der Zocker des Finanzgewerbes bezahlen soll.
Nicht die Zahl der Demonstranten ist jetzt entscheidend, sondern das rasante Tempo, mit dem sich ihre Botschaft rund um den Globus verbreitet. Wer hätte es noch vor wenigen Wochen für möglich gehalten, dass in fast der Hälfte aller Staaten dieser Welt Bürger koordiniert gegen den Würgegriff des globalen Finanz- und Wirtschaftssystems auf die Straße gehen? Wer mag jetzt noch seine Hand dafür ins Feuer legen, dass Bürgerprotest, dem auf anderen Kontinenten bereits waffenstarrende Gewaltregime zum Opfer fielen, nicht auch die ökonomischen Glaubenssätze der westlichen Industrienationen umstoßen kann?
Schon seit geraumer Zeit mehren sich die Zeichen, dass die von Politikern und der veröffentlichten Meinung sedierten Bürger nicht länger willenlos all das zu schlucken bereit sind, was ihnen von ihren Regierungen vorgekaut wurde. Jetzt rächt sich, dass die Politik diese heraufziehenden dunklen Wolken allzu lange ignorierte.
In den westlichen Demokratien gilt die zum Teil dramatisch sinkende Wahlbeteiligung als einer der wichtigsten Indikatoren wachsenden Bürger-Frustes. In den USA reichen die Stimmen von kaum einem Viertel der Wahlberechtigten, um den angeblich mächtigsten Mann der Welt in sein Präsidentenamt zu hieven. Mehr als Dreiviertel aller wahlberechtigten Amerikaner stimmen nun schon seit Jahren für den Gegenkandidaten oder gehen – mehr als die Hälfte – erst gar nicht an die Urnen. In anderen Demokratien, Deutschland voran, lügen sich Politiker nur allzu oft über gewaltige Stimmenverluste hinweg, indem sie gewachsene Stimm-ANTEILE bejubeln oder ihre Rolle als stärkste Partei oder Fraktion auch dann noch als großartige Siege verkaufen, wenn ihnen weniger Wähler als je zuvor ihr Vertrauen geschenkt haben.
So feierten die Sozialdemokraten ihren Wahlsieg in Hamburg als „Trendwende“, als Signal, dass es nun wieder aufwärts gehe, obwohl es eigentlich auch in der Hansestadt nur weiter abwärts ging: Die eh schon kärgliche Wahlbeteiligung sank erneut um mehr als sechs Prozentpunkte. In anderen Bundesländern und Nationen verläuft diese Abwärtsspirale noch steiler.
Auf fernen Kontinenten fehlt mangels demokratischer Strukturen oft dieser Indikator. Dass sich auch dort immer mehr Menschen gegen repressive Regime erheben, unter denen sie leben und leiden müssen, kommt dennoch nicht überraschend. Zu ungeniert haben Diktatoren, Oligarchen, Plutokraten, all die Mächtigen dieser Welt, deren Reichtümer an sich gerissen, Rechte, Wünsche und Bedürfnisse ihrer Mitmenschen missachtet.
Bislang richtete sich der Aufstand der Unterdrückten vor allem gegen blutrünstige Gewaltherrscher oder soziale und politische Verhältnisse, die wir im „aufgeklärten“ Westen bei uns längst für überwunden erklärt haben. In China protestieren Jahr für Jahr – von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet – Millionen gegen gesellschaftliche Missstände; in Indien stehen ganze Provinzen unter der Kontrolle systemfeindlicher Bewegungen; in Nepal erzwang eine maoistische Massenbewegung die Wiedereinsetzung des Parlaments; in Thailand erhob sich die Bevölkerung gegen die seit 2006 herrschenden Militär-Putschisten. Ähnliche Beispiele lassen sich auch in anderen Weltregionen finden. In Südamerika etwa manifestieren Namen wie Chavez, Lulu oder Morales den Protest.
Was diese in ihren historischen Wurzeln teilweise sehr unterschiedlichen Bewegungen verbindet mit dem, was unter dem Rubrum „islamischer Frühling“ in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel um sich greift, ist die Empörung der Massen gegen die herrschenden Verhältnisse. So verschieden diese in Tunesien, Ägypten, Jemen und Libyen auch immer gewesen sein mögen, in einer Hinsicht waren (und sind sie leider immer noch) vergleichbar: Die Menschen fühlen sich entrechtet, entmündigt und unterdrückt.
Wie diese Aufstände ausgehen werden, vermag niemand zu sagen. Ob sie sich ausweiten, ob sie – wie gegen Gaddafi – mit Waffengewalt ausgetragen werden, ob sie weitere nahöstliche oder afrikanische Gewaltregime hinweg fegen oder die bestehenden Machtstrukturen letztlich obsiegen – all das bleibt vorerst ungewiss. Aber der Schrei der Menschen nach Achtung ihrer Würde, ihres Lebensrechts, der Garantie ihrer physischen und psychischen Unversehrtheit ist unüberhörbar.
Seit der französischen Revolution wird Demokratie als jene Regierungsform gepriesen, in der die Bürgers als Souverän ihr Gemeinwesen gestalten und regieren. Diese „Volksherrschaft“ soll verhindern, dass Situationen entstehen, in denen das Volk sich gegen die Herrschaft –womöglich gewaltsam – seiner Rechte versichern muss. Doch das funktioniert nur, solange die überwiegende Mehrzahl der Bürger sich an dieser Gestaltung beteiligt und dabei das Gefühl gewinnt, dass ihre Teilhabe an der Gesellschaft in diesem Prozess gewahrt bleibt.
Beides ist in den westlichen Demokratien immer weniger der Fall. Die wachsende Stimmenthaltung beruht vor allem darauf, dass sich für einen immer größeren Teil des „souveränen“ Volks herzlich wenig ändert, egal wer gewählt wird.
Es war eine rot-grüne Koalition, die in der Bundesrepublik die Axt an den Sozialstaat legte, die letzten Bastionen gegen die Gier der Finanzwirtschaft schleifte und Deutschland gegen den Willen einer großen Mehrheit der Bürger als kriegführende Nation zurück auf die Schlachtfelder unserer Tage führte. Und in den USA muss der mit großen Erwartungen und viel Vorschusslorbeer bedachte demokratische Hoffnungsträger Barack Obama die Politik der wirtschaftshörigen Republikaner gegen die Interessen des amerikanischen Volkes durchdrücken. In dem Maß, in dem die Politik gesellschaftliche Gestaltungsmacht an die Wirtschaft abgetreten hat, ist das Interesse der Masse an Mitwirkung bei der politischen Willensbildung geschrumpft.
Vielleicht hätte die schleichende Aushöhlung der Demokratie noch Jahre oder Jahrzehnte gedauert, bemerkt und kritisiert nur von einigen wenigen – den Nestbeschmutzern, Ewiggestrigen, Kritikastern oder ein paar Wutbürgern, wie diejenigen beschimpft werden, die sich in die Verhältnisse nicht einfach schicken wollen. Doch nun ist es die systemimmanente Gier jener, welche in den vergangenen Jahren immer größere Teile des gesellschaftlichen Reichtums an sich gerissen haben, die viele Bürger, die bislang auch durch (schein-) demokratische Rituale ruhig gestellt worden waren, aus ihrer Apathie reißen könnte.
Dass binnen Monaten nun schon zum zweiten Mal die Steuerzahler mit Hunderten Milliarden Euro jene „Bankster“ retten sollen, deren ungezügelte Gewinnsucht ganze Volkswirtschaften an den Rand des Ruins treibt, empört die Menschen. Die Bürger nehmen nicht länger widerspruchslos hin, dass in der Branche der internationalen Finanzzocker obszön hohe Gehälter und Boni ausgeschüttet werden, während sie gleichzeitig hemmungslos Verluste anhäuft, die der Steuerzahler ausgleichen soll.
Weitsichtige Nutznießer unseres Wirtschaftssystems fürchten bereits, dass der „Aufstand der Entrechteten“ auch die Verteilungsgewohnheiten in den Industrienationen umstoßen kann, die es einer winzigen Oberschicht erlauben, den Löwenanteil all der Gewinne abzuschöpfen, die von der Gesellschaft als Gesamtheit produziert und garantiert werden. Verwundert stellte jetzt ein TV-Reporter bei einer Straßenumfrage zur Finanzkrise fest, wie viele der Befragten – ausgerechnet im konservativen Bayern – eine Änderung „unseres Systems“ forderten.
Genau diese Systemfrage verbindet die Demonstranten vom 15. Oktober mit jenen, die rund um den Globus zum Teil unter Einsatz ihres Lebens gegen „ihre“ Systeme kämpfen.
Den Zynikern von Spiegel-Online ins Stammbuch und den Zockern zur Warnung: Selbst wenn 99 Prozent von 80 Millionen Deutschen zu Hause bleiben, gehen immer noch 800 000 auf die Straße. Im ähnlich kopfstarken Ägypten genügten viel weniger Protestierer, um den langjährigen Diktator Hosni Mubarak um sein usurpiertes Amt und vor den Kadi zu bringen.
Die Zahl der Demonstranten mag mancherorts noch bescheiden wirken. Wirklich wichtig aber ist, dass die Hausfrau und der Pensionär, der Handwerkmeister und die Angestellte, dass die Schneeweißchens und Rosenrots sich einreihen. Denn wenn der Widerstand die Mitte der Gesellschaft erfasst, scheinen auch die Tage jener Strukturen gezählt, gegen die er sich richtet.

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