EM-Aus: Die deutschen Tugenden

Von Michael Kraske

Jetzt kriechen wieder alle aus den Löchern, die es eh schon immer gewusst haben: Deutschland kann eben nicht so schön spielen wie die Südländer. Wir brauchen wieder mehr Härte, mehr Grätschen, mehr gelbe Karten, eine Hierarchie, einen Führer, den man neumodisch „aggressive leader“ nennt. Ein Synonym für Treter übrigens. Deutschland reagiert auf den Halbfinal-K.o. so angsterfüllt wie auf jede gefühlte Wirtschaftskrise. Doch Angst gewinnt auch auf dem Rasen keine Spiele. Wer auf Nummer sicher gehen will, indem er die Rezepte aus dem letzten Jahrtausend aufwärmt, wird demnächst von den Künstlern schwindelig gespielt werden.

Die Niederlage gegen Italien hatte Gründe: Löw hatte die rechte Offensivseite komplett aufgelöst und dafür Toni Kroos auf Spielmacher Pirlo angesetzt. Das ist im modernen Fußball ungewöhnlich. Wenn der Gejagte sich wie Pirlo die Bälle am eigenen Strafraum abholt, geht die Manndeckung vollends in die Hose. Zehn Minuten lang schaltete Kroos den alten Pirlo aus, danach irrte er wirkungslos durch die Mitte. Podolski, der grandiose Turniere gespielt hatte, hätte nach seinen schwachen Auftritten nicht auflaufen dürfen. Stattdessen hätten die überzeugenden Schürrle und Reus die Italiener mit schnellen Kombinationen und kurzen Antritten über außen knacken können. Löw richtete sich stattdessen nach Italien und gab die eigene Idee auf. Ein Grund für die Niederlage war zu wenig fußballerische Brillanz, nicht zu viel. Dazu die eklatante Formschwäche von Schweinsteiger. Sein Versagen bestand darin, dass er Zehn-Meter-Pässe dem Gegner in den Fuß spielte und, nicht dass er unfähig war, den Führer raushängen zu lassen, wie die Bild posaunt. Das System „Capitano“ mit einem großmauligen Michael Ballack als Chef war ja ebenfalls ein Rohrkrepierer, was Titel angeht.

Ebenso beliebt wie der Ruf nach dem Führer ist die Rückbesinnung auf die „deutschen Tugenden“ oder auch die „gesunde Härte“. Weltmeister Thomas Helmer sagte in der Sport1-Plauderrunde, da dürfe ruhig auch mal ein Italiener fallen, zu deutsch also umgehauen werden. Diverse Kommentatoren analysierten als Grund für das Aus ein Übermaß an Fairness. Die deutsche Mannschaft hatte 180 Minuten lang keine gelbe Karte kassiert. Da muss man ja ausscheiden. Was für ein Blödsinn. Die Tore gegen Italien hätten leicht ohne Foulspiel verhindert werden können. Hummels hätte den Weg zum Tor abdecken müssen, anstatt eine Pirouette zu drehen. Badstuber hätte hochspringen müssen. Und Lahm hätte sich fünf Meter weiter hinten postieren müssen, anstatt auf Abseits zu spekulieren, dann wäre ihm Balotelli nicht weggelaufen und der Welt wäre das testosterongeschwängerte Stillleben Balotellis erspart geblieben. Alles Selbstverständlichkeiten, für die man keine Blutgrätsche braucht. Die Niederlande haben es im WM-Finale mit roher Gewalt gewürzt mit Brutalität versucht und wurden von Spanien dennoch entzaubert.

Typisch deutsch auch die mit Selbstzweifeln garnierte Schuldfrage: Ist Jogi, den wir eben noch über den grünen Rasen lobten, doch nicht der richtige? Kann er keine Titel? Löw hat mit der Nationalmannschaft bewiesen, dass die deutschen Grundannahmen über Jahrzehnte falsch waren. Die Grundannahmen waren: Wir sind keine Brasilianer. Wir haben keine Technik. Wir können nur gut rennen und treten.

Jogi hat gezeigt: Wir können schnellen, technisch brillanten Tempofußball spielen. Die Regel: Zu schön, um erfolgreich zu sein, ist widerlegter Unsinn. Bei den großen Niederlagen der letzten Jahre gegen Italien und Spanien haben die Spieler versagt, waren ängstlich oder formschwach. Was den 60 Millionen deutschen Bundestrainern schwer fällt zu akzeptieren ist die simple Wahrheit: Gegen eine deutsche Mannschaft in mittelmäßiger Form können etliche Teams gewinnen. Umgekehrt gilt auch nach der EM: Wenn Deutschland seinen besten Fußball spielt, müssen sogar die Spanier über sich hinaus wachsen.

Die jetzt wieder herbei gesehnten deutschen Tugenden sind eine Selbstverständlichkeit, kein Geheim-Rezept. Im modernen Fußball müssen taktisch disziplinierte Mannschaftsteile viel und klug laufen, um den Ballverlust des Gegners zu erzwingen. Meisterhaft macht das Borussia Dortmund unter Jürgen Klopp. Dann aber braucht es keine Grätscher und Führer, sondern Techniker und Dynamiker, die Bälle steil, heute sagt man vertikal, in die Lücken des Gegners spielen, beziehungsweise in diese Lücken laufen, um die engen Abwehrketten aufzusprengen. Man braucht dazu Spieler wie Özil, Müller, Götze, Reus oder Schürrle. Auch Spieler wie Podolski, wenn sie denn in Form sind. Die Sehnsucht nach dem ausrangierten Rumpelfußball ist absurd. Gäbe man ihr nach, wäre die Folge nicht, dass wir eine Weltmeisterschaft bejubeln dürften, sondern dass wir uns wieder grausames Ballgeschiebe wie unter Rudi Völler mit ansehen müssten. Pleiten inklusive.

Lieber mit gutem Fußball in einem Halbfinale ausscheiden als mit Rumpelfußball in jedes Finale stolpern. Fast-Weltmeister Oliver Kahn ließ am ZDF-Fußballstrand von Usedom einige harte Attacken von spanischen Verteidigern zusammen schneiden, um zu zeigen, dass der Triumph über Italien nicht nur hauchzart erspielt, sondern auch knüppelhart ertreten wurde. Immer und immer wieder sollten deutsche Trainer dem Nachwuchs lieber die ersten beiden Tore der Spanier zeigen. Die grandios präzisen Pässe von Iniesta. Die Übersicht und Selbstlosigkeit von Fabregas. Niederlagen werden hinten verhindert. Siege durch Tore entschieden. Und Tore können gar nicht schön genug sein.

Dieser Beitrag wurde unter Alle Artikel, Politik: Welt, STREIT-BAR abgelegt und mit , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten auf EM-Aus: Die deutschen Tugenden

  1. ama sagt:

    “Die Niederlande haben es im WM-Finale mit roher Gewalt gewürzt mit Brutalität versucht und wurden von Spanien dennoch entzaubert.”

    komisch. hast du damals ein anderes spiel gesehen als ich? die spanier haben gefoult wie verrückt, nicht die niederländer…

    • Michael sagt:

      Ich erinnere an den brutalen Tritt von Nigel de Jong. Und Mark van Bommel hat mehrfach in gewohnter Weise hingelangt. Den Eindruck überharter Gangart als Reaktion auf die spanische Dominanz teilten damals viele neutrale Beobachter.