Eine katholische Revolution – so werden wir Papst!

Von Michael Kraske

debattiersalon | So werden wir Papst | Foto: © Marcus Müller 2013Der Papst geht freiwillig in Rente. Das ist unerhört, das ist ein katholisches Beben. Das ist gemessen an der Revolution, die es bräuchte, beinahe eine Nichtigkeit. Ich bin Katholik wie schon meine Eltern, ich war Messdiener, ich ging als Kind jeden Sonntag in die Kirche, pendelnd zwischen der Langeweile in einer für Kinder unverständlichen Lithurgie und der Heimat einflößenden Mystik der Bibel-Szenen in bunten Glasbildern zwischen roten Ziegelwänden in meiner Kirche. Eine der ersten Erinnerungen an kirchliche Autorität ist der Besuch unseres Pfarres in unserem Wohnzimmer. Er kam, um meinen Eltern mitzuteilen, dass meine Schwester nicht länger Messdiener sein dürfe. Das dürften in seiner Kirche nur die Jungs. Es gab und gibt für diese Diskriminierung keinen guten Grund, nur den einer aus dem Ruder gelaufenen, sich selbst reproduzierenden Tradition. Mit der gleichen anmaßenden Arroganz wird Frauen das Priesteramt verweigert, wird ein Männerbund aufrecht erhalten, in dem Frauen als minderwertig behandelt werden. Diskriminierung durch meine Kirche habe ich früh gelernt.

Eine andere frühe Erinnerung ist die an meinen Pfarrer Walter. Wie ich neben dem Mann mit rotem Rauschebart und klampfender Gitarre zur Musik von Guantanamera ein Protestlied in der Kirche singe, über einen ausgebeuteten Bauern, der nicht länger still halten mag angesichts der Ungerechtigkeit, die ihm widerfährt. Pfarrer Walter predigte unserer Gemeinde ins Gewissen, er hielt Gottesdienste vor NATO-Standorten, weil er es mit dem Frieden genau nahm. Er organisierte Jugend-Freizeiten und konnte uns Kinder begeistern. Aber so viel Begeisterung war nicht erwünscht, der Rebell wurde ins hinterste Sauerland versetzt, die Dorfbewohner würden ihm die Flausen schon austreiben.

Seither ist viel passieret, so viel, dass man als kleiner, einfacher Katholik beständig zwischen Scham und kalter Wut pendelt, zwischen Ohnmacht und Fassungslosigkeit. Jetzt reden und betrachten und drehen und wenden alle das Pontifikat von Benedikt hin und her, und die Schlagworte Pius-Bruderschaft oder Missbrauchsskandal sinken herab zu Wegmarken, die nur herangezogen werden, um die Beschwerlichkeit des Weges des Jüngers im Weinberg des Herrn zu beschreiben. Der freiwillige Abgang von Benedikt könnte tatsächlich ein unfreiwilliges Zeichen sein. Das Zeichen dafür, dass nichts von Menschenhand Geschaffenes für alle Zeit ins Leben gemeißelt ist. Dass die anachronistische Autokratie des Katholizismus weder Gott- noch naturgegeben ist. Dass Veränderung, nach der sich so viele Katholiken sehnen, möglich ist.

Der Rücktritt Benedikts selbst ist nicht das Ereignis, er ist die lediglich die Chance auf einen radikalen Wandel, der kommen muss, will die Kirche wieder relevant werden für das Leben in der Gegenwart. Es ist westlicher Konsens, dass der Islam Aufklärung braucht. Der Katholizismus hat Aufklärung genauso bitter nötig und dazu eine Revolution, denn mit Reförmchen sind die über Jahrtausende eingeschliffenen Ungeheuerlichkeiten nicht zu korrigieren. Wer das fordert, provoziert selbstredend den Aufschrei der alten Männer. Um Missverständnissen vorzubeugen, muss man präzisieren, was mit Revolution gemeint ist. Gemeint ist eine Revolution der Liebe, der Mitmenschlichkeit, der Nächstenliebe. Eine einzige Frage genügt, um die Richtung vorzugeben: Was würde Jesus dazu sagen?

Was würde er sagen, wenn sich eine vergewaltigte Frau hilfesuchend an seine Klinik wenden würde? Was würde er sagen, wenn ein Pius-Bruder den Holocaust, dieses monströse und barbarische Verbrechen, leugnet? Was würde Jesus sagen, wenn die Opfer von sexuellem Missbrauch durch Kirchenmänner verhöhnt und zum Schweigen gebracht werden sollen? Was würde er sagen, wenn diese widerwärtige Wahrheit anschließend vertuscht statt anerkannt werden soll? Was würde er dazu sagen, dass Kirchenmänner, die kindlichen Körpern und Seelen immer bleibenden Schaden zugefügt haben, nicht betraft, sondern nur versetzt und damit auf die nächsten wehrlosen Kinder losgelassen werden? Was würde Jesus sagen, wenn Schwule und Lesben, die nichts weiter tun als ihre Sexualität einvernehmlich zu leben, als Kranke und Sünder gebrandmarkt werden? Was würde er dazu sagen, dass die Stimmen so vieler Gläubiger von selbsternannten Gralshütern der reinen Lehre für unbedeutend erklärt werden?

In jedem Verein, in jeder Partei müssten diese rhetorischen Fragen nicht beantwortet werden, weil Anstand und Moral sie von selbst beantworten. Meine Kirche aber ist in solch einem Zustand, dass man die Antworten aussprechen muss. Jesus würde der vergewaltigten Frau helfen. Er würde auf Seiten der Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes sein. Er würde alt gewordenen Kindern gegen kirchliche Sexualstraftäter und deren Beschützer beistehen. Er wäre für die Wahrheit, nicht für die Vertuschung. Und er wäre bei den Liebenden, auch den schwul oder lesbisch Liebenden, nicht bei den Pharisäern.

Das ist keine Polemik. Das ist lediglich die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Jesus und Papst-Kirche. An den Skandalen der Kirche zeigt sich ihr Dogmatismus, ihr Mangel an Mitgefühl und Nächstenliebe. Eine vergewaltigte Frau abzuweisen, weil man ihr unter keinen Umständen die Pille danach verschaffen will, ist Abbild eines Glaubens, der eine möglicherweise befruchtete Eizelle für schützendwerter erachtet als eine gedemütigte, verletzte, in ihrem menschlichen Kern erschütterte Frau. Man kann das prinzipientreu nennen, aber nur um den Preis einer kaltherzigen Gleichgültigkeit. Das ist furchtbare Gesinnungs-Ethik, die nicht nur Anstand und Mitgefühl vermissen lässt, sondern auch jeden Fitzel Verantwortungsgefühl. Damit verlässt man den Boden unserer Gesellschaft.

Gälte diese dogmatische Härte für alle, man müsste wenigstens Prinzipientreue attestieren. Doch es stimmt ja nicht. Es stimmt in beschämender Weise nicht. Bei Benedikts Rückholaktion der beinhart gestrigen Pius-Brüder war die Leugnung des Holocaust durch Bruder Richard Williamson kein Ausschluss-Kriterium. Der Papst ist auch Politiker, seine Taten sind Botschaften. Der demonstrative Schulterschluss mit einem, der die millionenfache Ermordung jüdischer Menschen leugnet, war ein seismographischer Akt, der den moralischen Rahmen des Papstes absteckte. Man darf als Katholik durchaus die Verbrechen der Nazis bestreiten, wenn man sich von Rom umarmen lässt. Das war die Botschaft. Der spätere Rauswurf von Williamson aus der Pius-Bruderschaft ändert nichts, aber auch gar nichts an dieser Botschaft. Benedikts Besuch in Auschwitz und sein glaubwürdiges Bekenntnis auch nicht.

Wie hart kann meine Kirche gegenüber Geschiedenen sein? Wie hart gegenüber Menschen, die nichts anderes tun als sich zu lieben? Wer derart sündhaft lebt wird raus geschmissen, wenn er für die Kirche arbeitet. Der kann nicht länger einen Kindergarten leiten oder im Krankenhaus arbeiten. Der muss büßen. Gegenüber einem Nazi-Sympathisanten aber windelweiches Erbarmen auszugießen ist bodenlos. Und das, während in Benedikts Heimat die Brüder im Geiste des Herrn Williamson Ausländer oder Obdachlose ermorden und vermeintlich Minderwertige jagen und kaputt schlagen. Es passt einfach nicht zusammen: Einmal steht die Einheit der Kirche über allem, Moral hin oder her, im anderen Fall wird gnadenlose Härte durchgezogen, bis die als Sünder gebrandmarkten Gläubigen an ihrer Kirche zerbrechen. In solchen Momenten wirkt meine Kirche, als habe sie jeden moralischen Kompass verloren.

Ist das Urteil zu hart? Zu rigide? Ist es ungerecht, weil die Kirche doch reagiert hat, etwa im Missbrauchs-Skandal? Erstmal bleibt die monströse Schuld zigtausendfachen Missbrauchs und einer systematischen Praxis des Vertuschens, bei der die Opfer durch aktiven Täterschutz und psychischen Druck noch nach der Tat drangsaliert wurden. Immer wieder wurde der Eindruck einzelner Verfehlungen erweckt, aber die Richtlinie, Missbrauchsfälle ausschließlich der Kirche, nicht aber der zuständigen Staatsanwaltschaft zu melden, war der systematische Versuch der katholischen Kirche, Täter vor Strafverfolgung zu schützen. Das Ansehen war immer wichtiger als die Opfer. Kinderseelen wurden weniger wichtig genommen als die Organisation. Das ist so abgründig, so weit weg von Jesus, dass es für einen Katholiken unerträglich ist.

Ja, die Kirche versucht Aufarbeitung. Aber am Ende wollte sie den mit einer Studie beauftragten Kriminologen Pfeiffer zensieren. Trotz des Ausmaßes an sexueller Gewalt und erlittenen Leids hat sich meine Kirche nicht dazu durchringen können, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit über die Verbrechen in ihren Reihen zuzulassen. Am Ende haben sich eben doch wieder die Bewahrer, Hüter und Vertuscher durchgesetzt. Um den Preis, dass sich die Kirche weiter an den Opfern versündigt, deren Leid nicht ungeschehen gemacht werden kann, die aber wenigstens ein Recht auf Wahrhaftigkeit haben, um das sie immer weiter betrogen werden. So lange meine Kirche sich mehr liebt als jeden einzelnen Menschen, wird sich nichts ändern.

Meine Kirche hat sich in einer moralischen Bigotterie eingerichtet, die in keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe denkbar wäre. Sie verurteilt und diskriminiert und verunglimpft Menschen, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen und in Partnerschaften Liebe und Glück finden. Aber sie zeigt sich gnädig mit Männern, die ihre Macht ausnutzen, um ihre Sexualität mit psychischer und physischer Gewalt an Kindern auszuleben. Ja, es gibt jetzt neue Richtlinien. Aber die Diskussion über den Zöllibat und unterdrückte Sexualität ist nach kurzem Aufflackern schon wieder verebbt. Auf keinen Fall darf die Urache auch nur ansatzweise im System Kirche gesucht werden.

Wer sich dem Problem aber wahrhaftig stellen will, der muss nicht nur Opfer entschädigen und die bittere Wahrheit aussprechen, sondern der muss auch offen sein für die Argumente von Experten. Der muss über seine über Jahrhunderte kultivierte Sexualfeindlichkeit reden. Der muss sich anhören, was über Jahre unterdrückte Sexualität bewirken kann. Für manche mag Enthaltsamkeit ein gutes Lebensmodell sein. Die Mehrzahl der Menschen sind aber sexuelle Wesen mit Bedürfnissen. Sexualität ist in meiner Kirche verteufelt, allein die Form gewaltsamer Sexualität wurde nicht mit der gleichen Rigidität verfolgt wie die von Schwulen, Vor-Ehe-Beischläfern oder Geschiedenen. Das ist absurd. Das entzieht sich jeder akzeptablen Erklärung. In Zeiten der Kritik geht die Klappe zu, schließt sich der Kreis zur Wagenburg, aber Millionen meiner Mitbrüder und ja, auch der vergessenen Schwestern, warten darauf, dass der Deckel geöffnet wird und Glasnost und Perestroika einziehen.

Überhaupt, die vergessenen Schwestern. Der einzige Grund, der dafür spricht, Frauen vom Amt des Priesters oder Bischofs fernzuhalten, ist, dass alte Männer das so wollen. Schon immer so wollten. Tradition ist ein starkes Argument in meiner Kirche, aber es ist kein religiöses. Dass Jesus in Begleitung männlicher Jünger war, lässt nicht den Schluss zu, dass ihm nur Männer nachfolgen können. So wenig, wie sich der hierarchische Autokratismus auf Jesus berufen kann. Allein die jahrzehntelange Praxis, wie mit Missbrauchs-Fällen zu verfahren ist, ist Beweis genug, dass es menschliche Unfehlbarkeit, und komme sie auch im Papst-Gewand daher, nicht gibt. An der kirchlichen Basis rumort es, in den Gemeinden, wo Katholiken täglich Nächstenliebe praktizieren und sich fragen, was Jesus wohl sagen würde. Hunderttausende sind schon aus meiner Kirche geflüchtet, nicht weil sie den Glauben an Gott verloren haben, sondern weil sie im Glaubensbekenntnis nicht länger beten konnten, an die „heilige katholische Kirche“ zu glauben. Die bleiben, werden von oben herab behandelt, ihre Stimmen in Rom oder der jeweiligen Bischofs-Residenz für unwichtig erklärt. Dies kann die Zeit sein, in der sie ihre Stimme erheben, in der sie nicht nur gebannt lauschen, welche neuen Töne sie aus Rom hören, sondern mit lauter Stimme ihre Botschaft nach Rom tragen. Die Botschaft der Liebe, der Gleichheit vor Gott. Die Botschaft, die noch immer so einfach und unmissverständlich ist. Die so anders ist als die verquasten klerikalen Rechtfertigungen dafür, dass alles so bleiben muss wie es ist. Alles kann sich ändern. Benedikt macht es vor.

Das ist utopisch? Und überhaupt, warum ich nicht einfach austrete, wenn mir das nicht passt? Zwingt mich ja keiner, in meiner Kirche zu bleiben. Ja, ich leide in meiner Kirche. Ja, ich frage mich immer wieder, ob ich es noch in ihr aushalte. Aber ich glaube daran, dass wir alle gleich sind vor Gott. Ich lasse mir weder den Mund noch das Denken verbieten, schon gar nicht von den alten Männern mit den harten Herzen. Ich werde weiter fragen, was Jesus wohl sagen würde. Ich weiß, dass ich nicht allein bin. Der Glaube kann Berge versetzen. Ich weiß, dass meine Kirche ein besonders harter Brocken ist. Noch ist nicht aller Tage Abend. Noch können wir Papst werden.

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Eine Antwort auf Eine katholische Revolution – so werden wir Papst!

  1. Marion sagt:

    Das Problem sind nicht die alten Männer (die jungen sind leider auch nicht besser), das Problem ist das System und sein Anspruch auf das sog. Wahrheitsmonopol. Autoritäres Denken in Reinkultur. Siehe hierzu Küng: http://www.zeit.de/2011/22/Interview-Kueng