Ein Mauerfall

Von Jörg Gottschalk

debattiersalon | Ein Mauerfall: East Side Gallery | Foto: Marcus Müller © 2013„Sie sind aber kein Wiener, woher kommen Sie? “
„Ich komme aus Dresden, das liegt in Sachsen, ehemalige DDR. “

So oder so ähnlich verläuft ein Gespräch, wenn ich in Österreich nach meiner Herkunft gefragt werde.

1974 geboren, war ich fünfzehn, als die Mauer fiel. Vorher trug ich das blaue Halstuch der Jung- und danach das rote der Thälmannpioniere. Und danach, wieder blau, die Bluse der „Freien deutschen Jugend“. Ich lief mit. Beim Fahnenappell, im Sportunterricht mit Handgranatenweitwurf und auch sonst. Innerlich war ich dagegen, äußerlich dafür. War einfacher so. Friedliche Revolution, D-Mark und Wiedervereinigung, sie fielen mir in den Schoß.

Später studierte ich die komplette Stasiakte meines Vaters. Er war einer von über 30.000 politischen Häftlingen, die vom Westen freigekauft worden waren. Ich las von den Perversionen, zu denen dieser Staat fähig gewesen war. Sein Drang nach persönlicher und künstlerischer Freiheit brachten Jürgen G. als politischen Häftling 1984 den Knast. *

Ich hatte einfach Glück. Glück und die Gnade der späten Geburt. Ich überkletterte die Mauer erst im Sommer 1990. Eher symbolisch als aus Notwendigkeit. Die „East Side Gallery“, ich kannte sie nicht einmal. Wir waren auf dem Weg nach West-Berlin. Osten? davon hatten wir genug…

Die weltgrößte Open-Air-Galerie wurde 1989 nach dem erfolgreichen Zusammenschluss der beiden Künstlerverbände von Berlin (BBK West und VBK Ost) mit einem Beschluss des Ministerrates der damals im letzten Jahr ihres Bestehens befindlichen „DDR“ gegründet und als „East Side Gallery“ 1990 feierlich eröffnet.

debattiersalon | East Side Gallery | Foto: Marcus Müller © 2013Der Mauerstreifen (ehemaliger Todesstreifen) und die darauf befindliche „Hinterlandmauer“ verlaufen im Osten Berlins zwischen Mühlenstraße und Spree. Ihre charakteristischen Betonblöcke wurden auf einer Länge von 1,3 km von 118 internationalen Künstlern aus mehr als 21 Ländern gestaltet.

Der politische Zerfall, die Auflösung von Systemen, haben die „East Side Gallery“ an dieser Stelle möglich gemacht. Die Sowjetunion zerfiel durch Glasnost und Perestroika. Mit ihr erodierte der Ostblock und der erste und letzte Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden gleich mit.

Die Mauer der „East Side Gallery“ zerbröselt ebenfalls. Zahlreiche Berlin-Touristen aus aller Welt möchten sich ein Stück mit nach Hause nehmen. In fortgeführter Tradition der „Mauerspechte“ schlagen sie sich beherzt kleine und große Teile aus ihr heraus. Das Wetter sorgt ebenfalls für die langsame Auflösung der ausgestellten Kunstwerke. Außerdem benutzt eine lebendige Szene junger Graffiti-Künstler schon länger die verblassenden Zeugnisse deutscher Vergangenheit als Untergrund für den eigenen Ausdruck. Mathematisch versierte Zeitgenossen können es errechnen – irgendwann werden beide verschwunden sein. Die Mauer und ihre Haut, die „East Side Gallery“ . Aufgelöst, zerhackt und zerrissen ereilt sie das Schicksal Grenouilles.

Ist das schlimm? Ich glaube nicht.

Die Mauer und ihre Geschichte sind bestens dokumentiert. Erinnerung und Gedächtnis folgen schon lange der bewährten Ritualisierung. Gedenkstätte Bernauer Straße, Berlin Hohenschönhausen, die Black Box am Check Point Charlie und die Erinnerungsstätte im ehemaligen Notaufnahmelager in Marienfelde sind geschichts-politische Werkzeuge, die gut funktionieren.

Es braucht keine, teilweise ohne das Einverständnis der betroffenen Künstler, restaurierte
„East Side Gallery“ als Ort des Erinnerns. Sie soll sich auflösen! Langsam, stetig, friedlich…

„ … Berlin Berlin he,
dein Herz kennt keine Mauern,
Berlin, Berlin he!

Berlin Berlin he,
es gibt nichts zu bedauern,
Berlin, Berlin he! … “

Sangen John F. & die Gropiuslerchen 1987 und Udo Lindenberg fuhr schon 1983 „mit dem Sonderzug nach Pankow“. Im ehemaligen West-Berlin lebte die Künstlerszene ihr eigenes subversives Leben. Geschützt von der Ost-Berliner Mauer und indirekt gestützt durch die milliardenschweren Sondersubventionen, welche die „Frontstadt“ im Kalten Krieg am Leben erhielten. Rituelle Proteste und Graffiti-Aktionen auf ihrer Seite des Todesstreifens inklusive.

1964, drei Jahre nach dem Bau der ersten Mauer, wurde Ben Becker geboren. Der begnadete Schauspieler, Sänger und Charakterdarsteller ist ein Kind dieser Künstlerszene. In seiner Biografie „Na und, ich tanze“ beschreibt er sein Aufwachsen im West-Berlin der 70er und 80er Jahre. Offen, lebensfroh und cool ist es zugegangen. Ein paar Autoantennen mussten dran glauben, nichts Dramatisches. Am 3. März 2013, auf den Protesten gegen den Abriss von Teilen der „East Side Gallery“, erklärt er, seiner Meinung nach stellvertretend für alle Kulturschaffenden in Berlin, der Mauer seine Liebe.

„ … ich bin in dieser Stadt aufgewachsen, also in West-Berlin, und ich habe die Mauer schon immer geliebt …

… Rotfront, die Mauer muss bleiben … “

1912, neunundvierzig Jahre vor dem Bau der ersten Mauer, wurde Erich Honecker geboren.
Der bekannte Generalsekretär der SED, Staatratsvorsitzender und Vorsitzender des nationalen Verteidigungsrates der DDR sagte über sein Lieblingsbauwerk am 3. Mail 1974 wiederum folgendes:

„Es muss angestrebt werden, dass Grenzdurchbrüche überhaupt nicht zugelassen werden; (…) überall muss ein einwandfreies Schussfeld gewährleistet werden; (…) nach wie vor muss von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen.“ **

Ach Ben, ich habe Dich geliebt! Als Schauspieler, als Vorleser von „Berlin Alexanderplatz“ und als den Menschen, den Du in Deiner Biografie beschreibst. Doch das ist zu viel. Du hast Dich vergaloppiert. Du hast Dich vor einen Karren gespannt, dessen Fracht Du nicht kennen kannst und Du trabst zu schnell!

Deine Rede ist ein Schlag ins Gesicht aller, die es nicht geschafft haben, sich in der „Diktatur des Proletariats“ einzurichten. Die geflohen sind – verletzt – ohne die Frau, den Bruder, das Kind, ohne die, die da lagen, niedergestreckt. Ein Faustschlag ins Gesicht derjenigen, die nach den ersten Schüssen umkehrten, voller Angst, die inhaftiert, gefoltert und seelisch gebrochen wurden. Deren Angehörige in Sippenhaft genommen wurden. Ein Faustschlag in die Gesichter derer, die innerlich emigriert sind, physisch deformiert und ohne schöne Träume. Und ins Gesicht aller, die nie mehr träumen, weil ein Genosse an der Grenze seine Arbeit ordentlich gemacht hat.

Ben, bitte tanze Deinen Tanz auf dieser Bühne rasch zu Ende und gehe nach Hause, dann verzeihe ich Dir!

Wenn die Sonne nach Westen abhaut, bricht die raue Berliner Nacht an. Sie verhüllt die „East Side Gallery“. Die Enten quaken leise, die Spree plätschert gemütlich vor sich hin und der Wind treibt die Bässe vom „Kater Holzig“ übers Wasser. Die Mauer bröselt vor sich hin. Und löst sich auf, ganz von allein.

Es wird dauern, aber es wird geschehen, es MUSS geschehen…

Für ein Spreeufer ohne Mauern.

* „Druckstellen“ – Die Zerstörung einer Künstler-Biografie durch die Stasi , von Jürgen Gottschalk, aus der Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für Stasiunterlagen

** Matthias Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bonn 1998 (bpb) S. 468f.

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Eine Antwort auf Ein Mauerfall

  1. Friedrich sagt:

    Hallo Jörg Gottschalk! Ein seltsames Geschichtsverständnis springt mich in diesem Artikel an.
    Es ist allein schon unerträglich, dass so wenig Mauer – hier die “East Side Gallery” – stehen gelassen wurde.

    Hoffentlich gelingt es den Demonstrierenden, diesen Teil zu erhalten. Das sagt doch nun allein garnichts über die politische Auffassung über die DDR-Verhältnisse aus. Ich habe fast von Geburt an – am 17.Juni geboren – die DDR und die Mauer unerträglich gefunden. Ich fand, dass die meisten, die die Mauer weg haben wollten, auch das, was zu dieser Mauer führte, im Gedächtnis der deutschen weglösen wollten.