Von Johannes Kiess
Wolfgang Bok mag sich glücklich schätzen. Nicht nur auf Grund der Flutkatastrophe wird derzeit so gut wie nicht mehr über den Münchner NSU-Prozess berichtet. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien sorgt für Abwechslung. Vor allem sitzen „Deutschland“ und „damit letztlich wir alle“ nicht mehr so öffentlich auf der „Anklagebank“ wie Wolfgang Bok jüngst auf Cicero online beklagte. Die seltsam anmutende Trotzreaktion „Sind wir nun Zschäpe?“ auf einen Mordprozess, dessen Dimension in der Tat nicht alltäglich für eine Demokratie ist, lädt geradezu ein, noch einmal einige Dinge klarzustellen.
Grundsätzlich zeugt der Artikel von unreflektierten Identitätskonstruktionen – als ob die Frage der Verantwortlichkeit der deutschen Sicherheitsbehörden Herrn Bok in persona auf die Anklagebank in München versetzen würde. Dazu kommt eine gehörige Portion Angst vor dem eigenen Vormodernen, die er dann doch aber nur auf die Türkei projiziert, die für Bok Inbegriff einer noch lang nicht auf dem westlichen Niveau angekommenen Zivilisationsstufe ist. Was er denn auch mit dem Ausdruck „tiefer Staat“ kennzeichnet.
Bok wagt denn auch den kühnen Aufruf: „Etwas mehr Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat wäre schon angebracht. Denn wer keine Achtung vor sich selbst hat, darf diese auch nicht von anderen erwarten.“ Diesen Appell möchte man gerne postwendend zurückschicken: Vertrauen in den Rechtsstaat mag gut sein, die Kontrolle der Organe dieses Rechtsstaates allerdings ist sogar ein Prinzip desselben. Und mit der Achtung vor sich selbst kann es bei der übereifrigen Identifikation mit „Deutschland“, die Bok vor sich herträgt, nicht ganz so weit her sein.
Die peinlichen und ausschweifenden Angriffe auf die türkischen Prozessbegleiter, das Infragestellen „wie aufrichtig die türkische Trauer und Empörung“ wirklich seien, gefolgt vom ausländerfeindlichen Klassiker des Sozialschmarotzers: „Wo ist die bekundete Fürsorge, wenn die Zugewanderten der deutschen Fürsorge zur Last fallen?“ – all das lässt vermuten, dass Bok jegliches Versagen seines Überichs „Deutschland“ bzw. der deutschen Behörden mindestens aufgewogen sehen muss in den Versäumnissen der „Anderen“.
Diese Vorurteile und religiös anmutenden Verabsolutierungen von Staat, „wir“ und „die anderen“ sind entlarvend genug. Gekrönt aber werden die „unbequemen Fragen“, die Bok ganz sarrazinisch stellen will, durch die sich durch den gesamten Text ziehende Gleichsetzung von links und rechts. Besonders einfallsreich: der Verweis auf den Anspruch der Mörder und des NS-Regimes (national-)„sozialistisch“ zu sein.
Links ist da, wo die Zschäpe rechts ist?
Irritierend ist schon der Einstieg in den Links-rechts-Vergleich und die damit einhergehende Verharmlosung rechter Gewalt und der NSU-Terrorzelle. Zuerst bezeichnet Bok Vergleiche der Gruppe bzw. von Beate Zschäpe mit der Roten Armee Fraktion (RAF) und deren Protagonistinnen Meinhof, Ensslin oder Mohnhaupt als „politische Überhöhung“. Gleich im nächsten Absatz setzt Bok die Nazi-Zelle dann aber selbst mit Antifa-Gruppen gleich. Sofort folgt der Verweis, Linksextremisten würden genauso, nein, sogar mehr Gewalt anwenden als Rechtsextremisten. Schützenhilfe sucht Bok mit dieser kühnen These beim Bundesinnenministerium, dessen untergeordnete Behörden die rechtsterroristische Mordserie erst aufdeckten, als sich zwei der mutmaßlichen Haupttäter selbst erschossen hatten. Anstatt zur Kenntnis zu nehmen, dass seit der Wende auch nach bundesoffiziellen Zahlen kein einziger Mensch durch „Linksextreme“ sein Leben verlor, während nach Zählung etwa der Amadeu-Antonio-Stiftung und anderen Opferstellen 182 Morde aus rechtsextremen Motiven heraus begangen wurden – wovon skandalöser Weise von der Bundesregierung immer noch lediglich ein Drittel anerkannt wird.
In der Berichterstattung über den Mordprozess, klagt Bok weiter, werde außerdem die „tatsächliche gesellschaftliche Nicht-Verankerung … unterschlagen“. Dass die drei HaupttäterInnen der NSU-Terrorzelle in ein weites Netzwerk eingebunden waren und ihr rechtsextremes Weltbild, die Ideologie der Ungleichwertigkeit weit in der Bevölkerung verbreitet ist, verleugnet Bok. (Siehe hierzu die neuste Studie der Autoren Brähler, Kiess, Decker: Friedrich-Ebert-Stiftung: “Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012″). Die komplette Negierung dieser gesellschaftlichen Verankerung des Rechtsextremismus macht Boks Klageschrift zu einem beklagenswerten Dokument der Unkenntnis. Rechtsextremismus in Deutschland ein Problem? Nicht doch, schließlich steht der Feind ja links.
Damit nicht genug. Weil in der heilen Welt des bundesdeutschen Antikommunismus das Böse stets links angesiedelt wird, begann auch Zschäpes „mörderische[r] Irrweg in einer linken Jenaer Gruppe“. Die Partei „Die Linke“ wird vom eilfertigen Bok sogleich konsequent als das eigentliche Problem ausfindig gemacht: „Die Linkspartei, die eifrig an der Legende vom großen braunen Netzwerk strickt, hätte mit Blick auf ihr SED-Erbe reichlich Grund zur Selbstkritik. Dort, wo die selbst ernannten „Antifaschisten“ die größten Wahlerfolge einfahren, nämlich in ehemaligen DDR-Landen, treten die Neonazis am frechesten [sic] auf. Warum nur?“
Links ist also da, wo der Daumen rechts ist und die Linken produzieren ihre eigenen Rechtsextremisten, die wiederum auch deshalb das geringere Problem darstellen. Richtig ist: Schon nach wenigen Zeilen des Bokschen Pamphlets wird es schwierig, den wirren Argumentationsloopings zu folgen.
Hinter der Gleichsetzungslogik von Links- und Rechtsextremismus steckt nicht zuletzt die Idealisierung der politischen „Mitte“ und des eigenen etatistischen Demokratieverständnisses. Bekannt ist diese Vorgehensweise aus der Extremismustheorie, derer sich auch Familienministerin Kristina Schröder mit ihrer Extremismusklausel gerne bedient. Die Bedrohung der Demokratie kommt in dieser Argumentation immer von den „Rändern“ der Gesellschaft, somit von „Extremisten“. Zahlreiche Ergebnisse, unter anderem die „Mitte-Studien“ und die Untersuchungen zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer zeigen jedoch immer wieder das Gegenteil: Gerade in der „Mitte“ sind „rechtsextreme Einstellung, autoritäre Phantasien und mangelndes demokratisches Bewusstsein weit verbreitet“, so die Ergebnisse der jüngsten Mitte-Studie von 2012, die weiter oben Erwähnung fand. Dass auch das Handeln einer Regierung oder einzelner Behörden demokratiegefährdend oder zumindest für eine Demokratie unangemessen sein könnte – für Bok scheinbar unvorstellbar. Derart abwegige Thesen können sicher nur Linksextremisten behaupten, oder?
Die Gleichsetzung von links und rechts ist auch deshalb so ungeheuerlich, weil die menschenverachtende Ungleichwertigkeitsideologie von Nazis und Rechtsextremen mit den Gleichheitsansprüchen linker Gruppen – Ansprüche die im übrigen jede Demokratie teilt – unreflektiert in einen Topf geschmissen werden. Das ist nicht nur für „Linke“ ungeheuerlich, sondern die Aufkündigung der Werte der Aufklärung und der Menschenrechte. Nicht die Abweichung von der Mehrheitsmeinung, und schon gar nicht die einer Mehrheitsmeinung, die angeblich in der „Mitte“ liegt, ist eine Gefahr für die Demokratie. Die Gefahr besteht vielmehr in der Abwertung anderer, in Ungleichwertigkeitsvorstellungen, autoritären Gehorsams- und Aggressionsphantasien und der Aufkündigung der Geltung von Menschenrechten. Wer diese Meinungen teilt, verhält sich antidemokratisch, egal ob er sich selbst rechts von, links von oder mitten in der Mitte verortet. Mit der Verharmlosung rechter Gewalt in Verbindung mit der Denunziation von allem, was politisch links der Mitte angesiedelt wird, erklärt sich vielleicht, warum Wolfgang Bok sich in München selbst auf der Anklagebank wähnt.
Antidemokratisches Demokratiebild
Das krude, mit der Links-Rechts-Gleichsetzung zusammenhängende Demokratieverständnis kumuliert am Ende des Artikels in folgender Feststellung: „Muss sich also ein liberales, auf Gewaltenteilung und ausgedehnten Datenschutz erpichtes Deutschland kollektiv das Büßerhemd überstreifen?“ Die Demokratie, will uns Bok weismachen, ist ein im deutschen Rechtsstaat vollkommen institutionalisiertes und in ihm aufgegangenes (westeuropäisches) Wunderwerk, dessen Stabilität felsenfest und unhinterfragbar ist. Davon, dass Demokratie gelebt, gefordert und jeden Tag neu erstritten werden muss, davon, dass der Rechtsstaat nur in einer demokratischen Gesellschaft selber demokratisch sein kann, davon, dass die Sicherheitsbehörden nicht einfach auf Grund der Bezeichnung in einem Gesetzestext der Demokratie verpflichtet sind, sondern dieses Demokratieverständnis in den Behörden auch gelebt werden muss – von all dem ist Wolfgang Bok unbeeindruckt.
Tatsache ist: Ja, auch das von Bok hochgejubelte Deutschland muss sich unbequeme Fragen gefallen lassen. Da diese Deutschland-Metapher natürlich metaphysischer Blödsinn ist, müssen sich alle, die deutschen Sicherheitsbehörden, PolitikerInnen, Medien und selbstgerechte Mehrheitsgesellschaftler wie Bok – zumal in einer Demokratie – unbequeme Fragen gefallen lassen, erst recht in einem Mordprozess dieser politischen Tragweite. Womit wir wieder bei der eingangs angesprochenen Kollektivschuld-Angst und Herrn Boks Auffassung wären, er sitze höchst persönlich auf der Anklagebank. Boks idealistische, nationalistische Verblendung und das damit verbundene Opferdenken verdient entschiedenen Widerspruch. Warum ein Magazin wie Cicero einen derartigen, vor Unkenntnis und ideologischer Verblendung triefenden Text veröffentlicht, bleibt letztlich die einzige offene Frage.
Johannes Kiess ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Leipzig. Zuletzt veröffentlichte er als Mitautor „Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012“, auch online bei der Friedrich-Ebert-Stiftung herunter zu laden sowie „Rechtsextremismus der Mitte. Eine sozialpsychologische Gegenwartsanalyse“ (beide Bücher gemeinsam mit Oliver Decker und Elmar Brähler).
Interessant ist ja auch, denken wir über die Mitte-These mal historisch nach, dass diese Intelligenzwumme vom Cicero überhaupt nicht reflektiert, dass bspw. in der Weimarer Republik der Aufstieg der NSDAP nahezu ausschließlich auf Kosten ‘bürgerlicher Parteien’ erfolgte. Der Stimmenanteil der ‘weltanschaulichen Parteien’ – gemeint ist also der Block aus Zentrum, SPD, USPD und KPD – blieb von 1919 bis 1932 nahezu konstant ‘hälftig’, die NSDAP gewann hingegen auf Kosten von DNVP, DVP, Demokraten und all den zahllosen bürgerlichen Splitterparteien kontinuierlich hinzu. Nazismus war also auch damals schon ein eher ‘bürgerliches Phänomen’. Allemal ist ‘der Bürger’ als erster bereit, die lästige Demokratie über Bord zu werfen.
Ja, und danach ging es fröhlich weiter: Nach dem 2. Weltkrieg krochen die ja nun wirklich nicht geläutert zur SPD, sondern schlüpften schön unter die neue Decke von CDU und FDP. Aber dabei war und ist das Vergessen immer schnell bei der Sache.
Danke für Ihren Kommentar, Klaus Jarchow. In der Tat ist diese historische Dimension noch zu beachten. Bei Bok zieht sich sowieso (an einer Stelle habe ich auf westdeutschen Antikommunismus verwiesen) ein sehr eigenwilliges Geschichtsverständnis durch. Er dürfte leider bei vielen, z.B. der sächsischen Landesregierung auf sehr offene Ohren stoßen.
Sind solche Ausfälle im cicero eigentlich häufiger? Ich kenne Ihren Text zu dieser Prenzlberg-Dame und ihrer Kolumne, deshalb frage ich nach.